Diese Grundlogik unserer Festplatte mit dem installierten Datei-Explorer ist eine genauere Betrachtung wert: Alle Informationen, die nicht von den Sinnesorganen als den primären Filtern ausgeblendet werden, werden in dieser Gedächtnisstruktur neu angelegt. Das Spannende am Datei-Explorer des limbischen Systems ist, dass unser Spitzmausgehirn keinen Ordner „neutral“, also emotionslos, anlegen kann, sondern diesen beim Neuanlegen emotional einfärben muss. Bildlich können wir uns das so vorstellen, dass die Farbe Dunkelgrün für hoch emotional positive Erlebnisse und die Farbe Dunkelrot (am anderen Ende der Farbskala) für traumatisch negative Erlebnisse verwendet wird. Dazwischen liegen alle anderen Farbschattierungen, die für weniger stark erlebte emotionale Ereignisse verwendet werden. Aus dieser Logik der emotional bewerteten Erlebnisse folgt konsequenterweise, dass unsere Erinnerungen an bestimmte Ereignisse entscheiden, ob wir uns zukünftig davor fürchten, uns auf etwas freuen können, motiviert oder demotiviert sind. Die Zeit, in der uns etwas völlig egal sein konnte, ist nun vorbei. Die Emotion, die beim Erinnern (also beim Öffnen eines Ordners) entsteht, entspricht demnach der Farbe des Ordners. Wir werden an anderer Stelle noch genauer beleuchten, dass beim Öffnen eines Ordners der Farbton durch die momentane Emotionslage zum Zeitpunkt des Erinnerns verändert wird. Wenn wir traumatische Erlebnisse ausnehmen, sehen wir, dass unsere Erinnerungen sehr variabel sind.
Diese Erinnerungsfähigkeit voraussetzend, können wir nun das Sozialverhalten der ersten Spitzmäuse als die Konsequenz dreier Motive (dreier neuer Systemprogramme) verstehen, die wir auch als Updateversion 1 des Froschgehirns, das dabei weiterhin aktiv bleibt, verstehen könnten:
Mit diesem Programm wird unter anderem die Mutter-Kind-Beziehung aktiviert und so langfristig gewährleistet, dass Energie ausschließlich in die direkten Nachkommen und nahestehenden Verwandten investiert wird. Dadurch wird noch etwas Wichtiges möglich: Wir sind seit dieser Zeit in der Lage zu erkennen, wer im Ernstfall auf unserer Seite kämpfen würde, wer also Freund ist und wer Feind. Heute wissen wir, dass wir über Spiegelneuronen im Gehirn nicht nur das Verhalten anderer nachempfinden können, sondern dass sogar körperliche Reaktionen, die mit Angst, Aggression oder Freude in Zusammenhang stehen, kopiert werden. Geht es meinem Freund schlecht, so geht es auch mir körperlich schlecht – als Herdentiere synchronisieren wir unser Verhalten und unsere körperlichen Reaktionen mit Freunden, nicht aber mit Feinden. Seit dieses Programm aktiv ist, entstehen unterschiedlich starke Beziehungen zu Artgenossen. Nach diesem Prinzip wirken auch Wort-Bild-Marken und funktioniert Werbung: über die simple Erwartung meines (Überlebens-)Vorteils in der Zukunft. Enge Bindung und Beziehung kodiert unser Gehirn durch unterschiedlich starke Produktion des Hormons Oxytocin: Beim Anblick eines Freundes produzieren wir mehr, beim Gespräch mit einem ungeliebten Kollegen weniger davon. Seit dieser Zeit sind wir also gewissermaßen sozial abhängig geworden und wollen von jedem lieb gehabt werden. Bei zu geringer Oxytocin-Produktion können wir sogar krank werden.
Seit Erfindung der „Festplatte“ erinnern wir uns also an Erlebnisse – je emotionaler das Erlebnis, desto stärker die Erinnerung. Inhalte eines roten Ordners im Datei-Explorer, die Erinnerungen an angstbesetzte Ereignisse repräsentieren, sind im Spitzmausgehirn immer präsent und leicht abrufbar. Das scheint auch logisch, denn es geht ums Überleben.
Erinnert sich nun beispielsweise eine Spitzmausmutter an ein gefährliches Erlebnis, bei dem sie an einer Waldlichtung einem Luchs auf Futtersuche gerade noch entkommen ist, wird die gesamte „Szene“, von den Gerüchen bis zum exakten Ort des Geschehens, in ihrem Hirn in einen Ordner verpackt, rot markiert und archiviert. Die Folge ist, dass die Spitzmausmutter zukünftig Angst bekommt und ihren Fluchtreflex aktiviert, wenn Ähnlichkeiten mit dem abgespeicherten Erlebnis auftreten: Kommt sie auch nur in die Nähe dieser Waldlichtung, wird sie ihr Verhalten plötzlich ändern.
Wir stammen von Säugetieren ab, die eine Möglichkeit gefunden haben, diese Information an Kinder und andere Herdenmitglieder weiterzugeben: Das Hochinteressante daran ist, dass, weil ja die Mutter mangels Kommunikationsmöglichkeiten wie Sprache, Mimik und Gestik die Information nicht direkt weitergeben kann, eine Form indirekter Kommunikation entstanden ist: Meidet die Spitzmausmutter regelmäßig, unter Beobachtung aller anderen Spitzmäuse, diese besondere Waldlichtung, nähert sich aber gleichzeitig anderen Waldlichtungen ganz gelassen, so haben alle Beobachter eine Regel „verstanden“. Und ohne genau wissen zu müssen, warum, ahmen zuerst ein paar sehr nahestehende, dann viele und plötzlich alle Herdenmitglieder das Verhalten nach und meiden künftig diese Waldlichtung. „Kommunikation 1.0“ könnten wir diese Form der Informationsweitergabe nennen, bei der nicht der Sender, sondern der innere Zwang zum Empfangen im Vordergrund steht. Seit dieser Zeit können wir nicht anders: Wir beobachten das Verhalten anderer und versuchen, statistisch relevante Verhaltensmuster abzuleiten. Wir versuchen, die für uns komplex und chaotisch erscheinende Welt also durch die Identifizierung von allgemeinen Regeln vorhersehbarer und damit kontrollierbarer zu machen.
Dieser Sicherheitstrieb zwingt uns demnach, zu beobachten, ob bei anderen auffälliges, noch nicht vorhersagbares (und dadurch verunsicherndes) Verhalten zu bemerken ist. Ist das der Fall, steigt sofort unsere Aufmerksamkeit: Wir beobachten noch genauer und versuchen, Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. Ab einer gewissen Regelmäßigkeit des Wiederauftretens eines Ereignisses neigen wir nun dazu, an eine fixe Gesetzmäßigkeit zu glauben. Glauben wir, die Regeln erkannt zu haben, passen wir auch unser eigenes Verhalten entsprechend an. Wir kopieren in der Folge die Verhaltensmuster wichtiger Bezugspersonen. Daher ist beispielsweise Jammern so wunderbar ansteckend, weil wir aufgrund der Logik unseres Sicherheitstriebs dazu neigen, mit anderen „mit-zu-glauben“.
Zusammenhänge müssen dabei zumindest sieben Mal beobachtbar sein, damit wir beginnen, an eine allgemeine Regel zu glauben. „Monte-Carlo-Syndrom“ nennt man dieses Phänomen. Im Casino ist unser inneres Statistik- und Vorhersageprogramm ganz besonders deutlich erkennbar: Wenn wir an einem Roulette-Tisch stehen, an dem sieben Mal hintereinander Schwarz fällt, neigen die meisten von uns zur Überzeugung, dass die Wahrscheinlichkeit für die Farbe Rot beim achten Mal steigen muss. Das ist zwar mathematisch falsch, aber wir glauben daran, weil wir für die Vorhersage von Wahrscheinlichkeiten in kurzen Betrachtungszeiträumen optimiert wurden. Und in diesen Betrachtungszeiträumen ist es extrem unwahrscheinlich, dass sieben Mal und häufiger dieselbe Farbe fällt. Wir erwarten zu fünfzig Prozent eine Farbe, fällt sie mehrfach, steigt bei jedem Mal die gefühlte Wahrscheinlichkeit für die erwartete Gegenfarbe. Unser Gehirn ist eindeutig nicht für den Roulette-Tisch optimiert, egal ob in Monte Carlo oder Las Vegas …
Meine Hypothese, warum wir bei siebenmaligem Auftreten eines Ereignisses unlogisch zu interpretieren beginnen, ist, dass unsere Wahrnehmung auf natürlich wahrnehmbare Regelmäßigkeiten in einer kurzen Lebensspanne und damit auf die typische Herdengröße hin entwickelt wurde. Zweiteres wird uns später bei der Diskussion zu unserer Ablenkbarkeit und der sinkenden Aufmerksamkeitsspanne wieder begegnen. So viel kann man aber verraten: Wir sind extrem empfänglich für Ablenkung: Speziell in Büros mit rund sieben Mitarbeitern, da wir in dieser Gruppengröße Gespräche noch getrennt voneinander wahrnehmen (müssen).
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