Bernd Franzinger
Fritz I
Ein Knirps wehrt sich
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E-Book-Ausgabe 2015
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht, Gmeiner-Verlag
Umschlaggestaltung: Matthias Schatz, Gmeiner-Verlag
unter Verwendung einer Karikatur von: © Günther Sterk
ISBN 978-3-9815857-3-5
Für meine Enkel
Es war einmal ein kleiner Junge.
Er hieß Friedrich Karl Eckstein.
Fritz war anders als andere Kinder.
Ein eckiger Stein eben.
Und da ein eckiger Stein nicht schwimmen kann,
schwamm auch er nicht.
Vor allem nicht auf den Wellen des Zeitgeistes.
»Trofnih, ho Tiehleknud, ho Tiehleknud«, presste Friedrich Karl Eckstein mitten in einer Presswehe über die zahnlosen Kiefer.
Er war sehr ungehalten. Kein Wunder, denn es ging kaum voran. Wie ein Pfropfen steckte er im Geburtskanal fest. Bei jeder Wehe durchlitt er Höllenqualen. Und dazu auch noch diese unerträglichen, animalischen Laute seiner Mutter. Wo doch gerade er so sehr die Stille liebte. Wie gerne hätte er an die fleischigen Wände getrommelt. Aber er konnte noch nicht einmal eine Faust ballen, so eng war es in seinem Gefängnisschlauch.
Plötzlich spürte er einen kalten Gegenstand an seinem Kopf, dann ein lautes Knacken. Dieses Geräusch hatte er schon einmal gehört. Und zwar an Weihnachten, als Hubi einen Truthahn zerlegte.
Endlich gab der Muskelring über seiner Schädeldecke nach und das Köpfchen glitt hinaus ins Freie. Doch der Rest des Körpers blieb in der engen Höhle eingesperrt. Der kleine Fritz fühlte sich wie eine neugierige Schildkröte. Allerdings steckte sein faltiger Kopf nicht in einem Panzer, sondern im blutenden Schoß der Mutter.
Fritz schlug die Augen auf und schaute sich verwundert um.
»Riw nebeil neseid nenielk Mruw, re driw nedrew sersnu Snebel Mrut«, brabbelte er.
Wie oft hatte er diesen Spruch in den letzten Wochen gehört. Nun musste er ihn einfach zum Besten geben. Seine biologischen Erzeuger hatten dieses Mantra mehrmals täglich heruntergeleiert.
Zweck: Aufbau einer positiven Emotionalität.
Zielperson: Er, Friedrich Karl Eckstein, die ungeplante Leibesfrucht.
Diese Autosuggestion war auch bitter nötig gewesen. Denn je näher der Geburtstermin heranrückte, umso weniger euphorisch blickten Bea und Hubi ihrem Nachwuchs entgegen.
Von Gewissensbissen zermartert, hatten die beiden Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe aufgenommen. Dort erhielten sie den entscheidenden Tipp: Konsultation eines Psychotherapeuten, seines Zeichens ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der pränatalen Elternprogrammierung.
Fritz bekam bei diesen Sitzungen Kopfweh, der Therapeut einen dicken Geldbeutel.
Das als Gedankenstopp konzipierte Mantra fand stets dann seine litaneiartige Anwendung, wenn die beiden Zellenspender wieder einmal ein gemeinsames Klagelied anstimmten. Und das passierte recht häufig, um nicht zu sagen andauernd.
Die werdende Mutter jammerte oft und sorgte sich um vieles, auch um ihre knackige Figur.
Der werdende Vater dagegen trauerte eher still, vor allem um das schöne Cabrio.
»Haben Sie das eben gehört?«, stieß die feiste Hebamme aus.
Niemand reagierte, auch der Arzt nicht, der war mit seinen Gedanken schon auf dem Fußballplatz. Und die niederkommende Erstgebärende vernahm lediglich ihr eigenes, brunftähnliches Stöhnen.
Doch der kreidebleiche Mann neben ihr hatte kein offenes Ohr für diesen emphatischen Auswurf. Er saß auf einem Hocker und schnaufte synchron mit der Frau, mit der er zwar nicht verheiratet war, die er aber trotzdem als seine Frau bezeichnete.
Tapfer hatte er das solidarische Mithecheln in einem Geburtsvorbereitungskurs eingeübt. Aber nun geriet das rhythmische Schnauben aus dem Rhythmus und löste einen Sauerstoffüberschuss aus.
Dr. Hubert Wollenweber begann zu zittern, Gänsehaut spross auf seinem dichtbewaldeten Arm. Vor seinen zuckenden Augen baute sich eine riesige schwarze Wand auf. Sein Oberkörper neigte sich bedrohlich zur Seite.
Zu Hubis großem Glück schielte der Arzt. Denn so wurde er auf ihn aufmerksam, obwohl er eigentlich seinen Blick auf Fritz gerichtet hatte. Geistesgegenwärtig stürzte er sich auf den ohnmächtig werdenden, werdenden Vater. Er fing ihn noch rechtzeitig ab und schleppte ihn zu einer Liege.
»Herr, Herr Doktor, der, der Kleine hat eben etwas vor, vor sich hingestammelt«, stammelte die Hebamme.
Gemessenen Schrittes begab sich der Arzt zu der korpulenten Frau und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Beruhigen Sie sich, meine Liebe. Mir scheint, Sie sind ein wenig überarbeitet«, säuselte er. Sanft tätschelte er die teigige Speckwulst in ihrem Nacken. »Schon die fünfte Geburt hintereinander. Und dann auch noch Zwillinge dabei. Da hört jeder irgendwann einmal Stimmen.«
Die Hebamme rieb ihre feuchte Stirn und schüttelte den Kopf. »Daran muss es wohl liegen, Herr Doktor. Das kann ja auch überhaupt nicht sein.«
Der Stationsarzt lachte auf. »So ist es, meine Liebe.«
Angesichts dieser offenkundigen Ignoranz seiner frühkindlichen Sprachkompetenz entschloss sich Friedrich Karl Eckstein dazu, fortan zu schweigen.
»Wie ich sehe, mag sich unser neuer Erdenbürger noch nicht so recht hinaus in die Freiheit wagen«, meinte der Arzt schmunzelnd. »Schon merkwürdig. Das hab ich wirklich noch nie erlebt: Das Köpfchen ist draußen …«
Er stockte, beugte sich hinunter zum Ohr der Hebamme und fuhr wispernd fort: »Aber trotz Dammschnitt geht es nicht weiter. Der Kleine hat anscheinend stocksteife Schultern – wie eine Vogelscheuche.«
Das war nun aber wirklich zu viel des Guten, fand jedenfalls der kleine Fritz und erbrach sich.
Es sollte nicht das letzte Mal in seinem Leben sein.
»Oh Gott, Herr Doktor, was ist denn das?«, keuchte die Hebamme. »Das sieht ja aus wie Kindspech.«
Der Gynäkologe setzte eine skeptische Miene auf. »Kindspech aus dem Mund?«, flüsterte er. »Unmöglich! Dieses Sputum kann kein Mekonium sein.«
Mutups? Muinokem? Ehetsrev niek Trow!, kommentierte Fritz tonlos. Anschließend drückte er mit der Zungenspitze den Rest der zähflüssigen schwarzen Masse über seine Lippen hinweg.
»Dies käme wohl einem anatomischen Wunder gleich«, erklärte der Arzt unterdessen. »Jedenfalls muss die Sache dringend diagnostisch abgeklärt werden.«
Ein weiterer Schnitt mit der Geflügelschere – und Friedrich Karl Eckstein flutschte hinaus in eine Welt, die noch sehr viel Freude an ihm haben sollte.
Nachdem Beatrice Eckstein den sperrigen Quälgeist nun endlich ausgespien hatte, verschwanden die verhärmten Züge aus ihrem Antlitz. Zum ersten Mal nach vielen Leidensmonaten feuerte sie sogar ein kleines Lächeln in Richtung ihres eingeborenen Sohnes ab. Sie hob ein wenig den Kopf, spähte durch ihre zum Victoryzeichen gespreizten Beine. Trotzdem konnte sie ihn nicht sehen.
Er sie auch nicht – was der frischgebackene Erdenbürger Friedrich Karl Eckstein nicht sonderlich bedauerte.
Hören konnte sie ihn ebenfalls nicht. Denn Fritz schrie nicht. Fritz schrie nie – aus Prinzip. Schreien verabscheute er zutiefst. Er empfand diese nervtötende Kräherei als primitiv, disziplinlos und vulgär. Deshalb verzichtete er gänzlich darauf.
Dann sollte der kleine Fritz abgenabelt werden.
Hubi war dazu nicht in der Lage, lag er doch regungslos auf der Liege.
Und Bea wollte nicht. Das sei ihr zu eklig, meinte sie angewidert.
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