Bernd Franzinger
Lehrer Lämpel lebt
Roman
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ISBN 978-3-9815857-4-2
Also lautet ein Beschluß:
Daß der Mensch was lernen muß.
Nicht allein das Abc
Bringt den Menschen in die Höh’;
Nicht allein in Schreiben, Lesen
Übt sich ein vernünftig Wesen;
Nicht allein in Rechnungssachen
Soll der Mensch sich Mühe machen,
Sondern auch der Weisheit Lehren
Muß man mit Vergnügen hören.
Wilhelm Busch, 1865
Füße – nass, kalt. Mehr brachte Lehrer Lämpels lahmes Hirn nach 150 Jahren Tiefschlaf nicht zustande.
Irgendwann verspürte er ein unerträgliches Kribbeln in seinen Füßen.
Maikäfer?, fragte er sich angewidert.
Vor seinem geistigen Auge tauchte Onkel Fritz auf, dem Max und Moritz gerade einen bösen Streich spielten.
Lämpel versuchte, seine Beine anzuheben, doch sie bewegten sich keinen Deut.
Wie bei Sokrates, sinnierte er, eingedenk seiner humanistischen Bildung. Nur eben umgekehrt. Bei Sokrates hat das Gift zuerst die Füße, dann die Beine und schließlich den gesamten Körper gelähmt. Aber ich werde anscheinend von unten nach oben entlähmt.
Entlähmt? Welch barer Unsinn! Die deutsche Sprache kennt dieses Wort nicht. Das sollte Lehrer Lämpel leichthin wissen! Mir scheint, ich bin noch nicht recht bei Sinnen.
Wo befinde ich mich eigentlich?
Er hielt den Atem an und horchte angestrengt. Um ihn herum war es still, totenstill.
Liege ich etwa in einem Sarg, tief verborgen in der Mutter Erde feuchtem Schoß?
Plötzlich zuckte es in seinem linken Daumen. Nach und nach kehrte das Leben in jeden einzelnen Finger zurück. Er drückte die Knöchel nach oben und zog die Fingerkuppen zur Handwurzel. Der Untergrund war kalt und glitschig.
Eis und Tauwasser?, grübelte er.
Lämpel schob die Hände nach außen. Die Finger ertasteten senkrechte, eisige Wände.
Ich liege in einem frostigen Grab, aus dem ich nicht entfliehen kann. Nie mehr werde ich die Sonne sehen, jammerte er in Gedanken.
Panik erfasste ihn. Sein Körper verkrampfte sich und die Lippen zuckten wild. Er versuchte zu schreien, brachte jedoch nur ein ersticktes Krächzen hervor. Blinzelnd öffnete er die Augen.
Nichts als rabenschwarze Dunkelheit, stellte er resigniert fest.
Lämpel seufzte tief.
Ist ja auch kein Wunder, wenn man sich in einem Sarg befindet.
Er stieß ein grunzendes Geräusch aus, das jedem Wildschwein zur Ehre gereicht hätte.
Wieso liege ich eigentlich in einem Gletschergrab und nicht zu Hause in meinem warmen Bett?
Ein dezentes Schmunzeln huschte über sein Gesicht.
Wahrscheinlich bin ich ja dort und träume alles nur.
Erleichtert schlummerte er ein.
Viele Stunden später erwachte er mit hämmernden Kopfschmerzen. Er drückte die eiskalten Fingerspitzen auf die Schläfen und massierte sie. Das half ein wenig. Als er die Hände herabsinken ließ, klatschen sie ins Wasser. Frostige Schauer jagten seinen Rücken hinunter.
Um Himmels Willen, das Eis taut! Ich werde ertrinken!, pochte es unter seiner Schädeldecke.
Lämpel streckte die Arme nach oben. Die Fingerspitzen stießen auf einen Widerstand. Wie Stützpfeiler schob er beide Hände unter die eisige Platte und presste fest dagegen. Mit einem schmatzenden Geräusch schnellte der Sargdeckel zwanzig Zentimeter in die Höhe. Doch gleich darauf fiel er zurück auf die Handflächen.
Da ein Schulmeister selbst in Extremsituationen nicht von humanistischen Bildungsgütern verschont bleibt, dachte er unweigerlich an Atlas, den Zeus als Strafe für seine Teilnahme am Kampf der Titanen gegen die Götter dazu verdammt hatte, für alle Zeit den Himmel auf seinen Schultern zu tragen.
Aber du, mein lieber Lehrer Lämpel, sollst nicht bestraft, sondern belohnt werden, ertönte plötzlich eine tiefe Männerstimme in seinem Kopf.
»Wofür?«
Für den vorbildlichen Einsatz, den du vor 150 Jahren in deiner Schule geleistet hast.
»Womit soll ich belohnt werden?«
Mit nichts Geringerem als einem neuen Leben, antwortete die geisterhafte Stimme.
»Danke.«
Keine Ursache. Allerdings hat die Sache einen Haken.
»Und welchen?«
Du musst einen Auftrag erfüllen.
»Und welchen?«, fragte Lämpel noch einmal.
Du sollst die Schulen des 21. Jahrhunderts inspizieren und mir ausführlich darüber Bericht erstatten.
»Und wie soll ich das machen? Ich meine …«
Um die Übermittlung deiner Beobachtungsergebnisse musst du dich nicht kümmern, unterbrach die Stimme.
Du gehst einfach in die Schulen und schaust sie dir genau an. Außerdem redest du mit allen, die etwas mit dem modernen Bildungswesen zu tun haben, also mit Lehrern, Schülern, Eltern, Ministerialbeamten et cetera. Anschließend ordnest du deine Gedanken, indem du diese Beobachtungen feinsäuberlich in einem Tagebuch notierst.
»Und das bringe ich dir dann.«
Nein, das brauchst du nicht. Jedenfalls noch nicht.
»Wieso?«
Weil es mir vorläufig reicht, deine Gedanken zu lesen.
»Das kannst du?«
Sicher.
»Dann musst du Gott sein.«
Ein sonores Lachen dröhnte in Lämpels Kopf. Nein, der bin ich nicht.
»Wer bist du dann?«
Wilhelm Busch.
»Ach so«, murmelte Lämpel enttäuscht.
Was in deinem speziellen Fall wohl auf dasselbe hinauslaufen dürfte, gab die Männerstimme pikiert zurück.
Denn ich habe dafür gesorgt, dass du wieder zum Leben erweckt wirst. Abermals erklang dieses dumpfe Lachen.
Trotzdem musst du mich nicht Gott nennen. Das wäre wahrlich ein wenig zu viel der Ehre.
»Warum soll ich mir eigentlich die Schulen anschauen?«
Weil mich brennend interessiert, wie sich das deutsche Bildungssystem in den letzten 150 Jahren verändert hat.
»Und wie …«
Folge einfach den Pfeilen.
»Welchen Pfeilen?«
Lämpel wartete geduldig auf eine Antwort. Doch sein imaginärer Gesprächspartner war verstummt. Mit gekrümmtem Rücken setzte er sich auf die Fersen, krallte seine Finger in den Spalt und hievte sich ruckartig in die Höhe. Der Sargdeckel klappte nach hinten und schlug mit einem dumpfen Geräusch irgendwo dagegen. Nur einen Sekundenbruchteil später flammte grelles Licht auf.
Reflexartig kniff Lämpel die Lider zusammen und warf die Hände vors Gesicht. Nach ein paar Sekunden öffnete er die Augen, spähte durch die gespreizten Finger. Doch seine Nickelbrille war beschlagen und er sah nichts als eine milchigtrübe Nebelwand.
Lämpel zog die Brille ab und schaute sich um. Unzweifelhaft befand er sich in einem aus Bruchsandsteinen gemauerten Gewölbekeller. Der fensterlose Raum war mit einer Hobelbank, Werkzeug, Bauholz, Dachziegeln und allem möglichen Gerümpel vollgestopft. Die Gegenstände waren mit einer dicken Staubschicht und Spinnweben überzogen.
Mit einem kräftigen Zug blähte er die Lungen auf. In diesem Keller roch es ziemlich modrig, trotzdem war die Luft bei weitem frischer und angenehmer als diejenige in seiner eisigen Gruft.
Er kletterte aus dem Sarg und entdeckte die Pfeile, von denen die ominöse Stimme in seinem Kopf gesprochen hatte. Irgendwer hatte sie im Abstand von zwei Metern mit Kreide auf den Kellerboden gezeichnet.
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