Die unterschiedlichen Wahrnehmungen und „Sprachen“ der Wissenschafts- und Arbeitswelt allgemein verständlich zusammenzuführen, ist das Ziel meiner beruflichen Tätigkeit. Mein Drang, immer ein „Generalist“ zu bleiben und Fragen grundsätzlich fächerübergreifend beantworten zu wollen, wurde durch einen meiner Lehrer, Rupert Riedl, geprägt und spiegelt sich in diesem Buch wider. So wird dem aufmerksamen Leser bestimmt nicht entgehen, dass sich Begrifflichkeiten aus unterschiedlichen Bereichen der Wissenschafts- und Businesswelt wiederfinden.
Den Kompromiss der Vereinfachung, der bei der Übersetzung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse in allgemein verständliche Bilder einzugehen ist, muss ich akzeptieren. Das ist nicht ganz so einfach, wie es vielleicht scheint. Aus wissenschaftlicher Sicht ist dadurch manche sprachliche und inhaltliche Unschärfe der von mir dargestellten Bilder offensichtlich: Ich werde dennoch durch die Verwendung von Begriffen wie beispielsweise Frosch , Spitzmaus , Controller , Arbeitsspeicher , Hardware und Software versuchen, die Vorteile einer einfachen, trennenden und bildhaften Darstellung zu nutzen, um den Leser die evolutionsbiologische „Logik“ unseres Gehirns näherzubringen. Mir ist dabei natürlich bewusst, dass unsere heutige Vorstellung neurobiologischer Abläufe im Gehirn von zusammenhängenden, nicht linearen Netzwerken geprägt ist und nicht von klar getrennten Hirnbereichen. Die Nachvollziehbarkeit der Funktionsweise unseres Gehirns, das sich über Jahrmillionen an völlig unterschiedliche Rahmenbedingungen und Anforderungen anpassen musste, war mir dabei ein wichtiges Anliegen. Ich bin davon überzeugt, dass wir durch diese bildhafte Vorstellung die Logik unseres Verhaltens besser nachvollziehen und daraus lernen können.
Meine jahrelange Praxis in der universitären Lehre, in Vorträgen, Führungskräftetrainings und Management-Beratungen bestätigt die Nützlichkeit dieser „Übersetzungshilfen“. Mir geht es dabei nicht nur um eine Auflistung spannender und unterhaltsamer Erkenntnisse, sondern darum, die Eigen- und Fremdwahrnehmung zu schärfen und die Motivation zu mehr Achtsamkeit zu erhöhen. Wenn mir das gelingt, ist mein persönliches Ziel erreicht. Daher verzichte ich bewusst zugunsten der besseren Lesbarkeit und aufgrund der Zielgruppe, für die dieses Buchs geschrieben wurde, auf die wissenschaftlich üblichen Zitate und Fußnoten. Ich habe aber versucht, eigene Hypothesen, Gedanken und Erfahrungen deutlich erkennbar zu machen. Die erwähnten Studien sind mit wenig Aufwand im Internet zu finden.
Abschließend noch eine Bemerkung zum Thema „gendergerechtes Formulieren“: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Text verallgemeinernd das generische Maskulinum verwendet. Diese Formulierungen umfassen gleichermaßen weibliche und männliche Personen; alle Leserinnen und Leser sind damit selbstverständlich gleichberechtigt angesprochen.

Um zu verstehen, nach welcher Logik und Dynamik unser Gehirn werkt, benötigen wir Einblick in die biologischen Prozesse und deren Logik, die zur Ausbildung dieses speziellen Organs im Laufe der Evolution geführt haben. Wir sollten unsere Herkunft – also unser biologisches Erbe – betrachten, um nachvollziehen zu können, warum wir so denken und handeln, wie wir es tun. Sie werden sehen, dass sich bestimmte Teile unseres Gehirns zu völlig unterschiedlichen Zeiten und Rahmenbedingungen in der Evolutionsgeschichte differenziert und spezialisiert haben. Ich möchte Ihnen gleich im ersten Kapitel schildern, um welche Netzwerke es sich dabei handelt, wie diese Bereiche „denken“ und die Welt um uns interpretieren. In den folgenden Kapiteln werde ich immer wieder auf deren Vernetzung und Kommunikation untereinander hinweisen.
Die im Folgenden geschilderten Hirnteile sind natürlich keine unabhängig voneinander funktionierenden Bereiche. Sie arbeiten nach heutigem Wissen vielmehr als Netzwerk mit spezialisierten Arealen. Verstehen wir aber die speziellen „Eigenheiten“ jener Bereiche, die durch die Umstände und Rahmenbedingungen ihrer Entstehung geprägt wurden und zum Teil jahrmillionenlang annähernd unverändert funktioniert haben, so können wir wichtige Verhaltensweisen unseres Gehirns besser nachvollziehen.
Ein Prinzip der Evolution ist es, altbewährte Strukturen nicht mehr aufgeben zu können, sondern in Funktion und Struktur, immer angepasst an neue Anforderungen, zu ergänzen oder zu überlagern. Ist der Keller eines Hauses also einmal gebaut und tragfähig, so kann das Erdgeschoss nur mehr darauf errichtet werden, wenn zuvor der Keller ganz fertiggestellt wurde. Das gilt auch, wenn man im fertigen Haus dann eigentlich gar keinen Keller mehr brauchen würde.
Bei der Entwicklung eines Menschen (von der Befruchtung der Eizelle bis zum Neugeborenen) wird wie im Zeitraffer unsere gesamte stammesgeschichtliche Entwicklungsgeschichte durchlaufen. Man kann das in der Embryonalentwicklung deutlich sehen. Und es lässt einen fast schaudern, wenn man sieht, dass wir in einem bestimmten Entwicklungsstadium genauso ausgesehen haben wie Hai-Embryos. Von den Fischen und Amphibien zu den primitiven Säugetieren und schließlich zum Menschen durchläuft jeder von uns im Mutterleib die gesamte Evolutionsgeschichte. Es sollte also eigentlich alles an Struktur und Funktionen noch in uns vorhanden sein, was bereits vor Jahrmillionen „erfunden“ und erfolgreich eingesetzt wurde.
Wo sind denn nun die praktischen Kiemen, das einfache Gehirn der Frösche und die (überaus männliche) Ganzkörperbehaarung geblieben? Die Kiemen gibt es bei uns Menschen wirklich, sie treten bei manchen, quasi als „Entwicklungsfehler“, wieder in Erscheinung. (Ich kenne sogar jemanden, der diese Kiemenanlagen ausgebildet hat. Hübsch sind sie jedenfalls nicht. Und ihre ursprüngliche Funktion erfüllen sie leider auch nicht. Schade). Bei der Ganzkörperbehaarung gilt Ähnliches, und wenn man Pech hat, ist auch noch das gesamte Gesicht behaart. Da wird die morgendliche Rasur zu Ganztagsbeschäftigung. Auch bei Frauen.
Bei der Suche nach dem Verbleib des Froschgehirns wird es nun spannend und es soll uns zum eigentlichen Thema leiten.
FROSCH, AGGRESSION UND IMPULSKONTROLLE
Die erste Erkenntnis, die uns einem besseren Verständnis näherbringen soll, ist erst rund hundert Jahre alt und stammt aus der Neuroanatomie: Wenn man ein Stück Gewebe aus unserem Hirnstamm und Kleinhirn (einem basalen, entwicklungsgeschichtlich sehr alten Bereich unseres Gehirns) mit dem Hirnstamm und Kleinhirn heute lebender Frösche vergleicht, ist das mikroskopische Erscheinungsbild der beiden Gewebsproben auffällig ähnlich. Sie haben denselben grundlegenden Bauplan, man könnte sagen: dieselbe Hardware, also denselben Prozessor.
Die erste spannende Frage lautet also: Zeigt dieser Teil unserer Hardware, den wir seit rund 300 Millionen Jahren mit Amphibien als gemeinsames Erbe in uns tragen, auch noch immer dieselbe Input-Output-Logik? Ist noch immer die Software, die für das Überleben der ersten Landlebewesen programmiert worden ist, in uns aktiv? Sieht also ein Teil in uns auch jetzt – in dieser Sekunde – die Welt so, wie es ein Frosch tun würde, wenn er vor diesem Buch säße? Sie ahnen es schon: Ja! Denn neben den autonom ablaufenden Vitalfunktionen (wie Herzschlag, Atmung und dem Erlernen und der Koordination von Bewegungsabläufen) können in diesem Netzwerk, das wir von den Fröschen „geerbt“ haben, drei ganz zentrale Verhaltensimpulse ausgelöst werden, die schon Frösche zum Überleben benötigten:
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