Marcus Lüthke
Besser im Jenseits als im Abseits
Kurzgeschichten
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Inhaltsverzeichnis
Titel Marcus Lüthke Besser im Jenseits als im Abseits Kurzgeschichten Dieses ebook wurde erstellt bei
Der schwarze Hulk
Geil
Die Frau im Manne
Smells und Big Foot
Täter-Opfer-Ausgleich
Unangenehm
Zombies anner Esso-Tanke
Ameisen (Reisen bildet)
Ein schmaler Grat
Peles Herz
Herr Lux – Reloaded
Max am Mike
Impressum neobooks
Eine wütende Meute rennt hinter mir her. Ich drehe mich um. Manche der Männer tragen kurze Hosen. Einige schwenken lange, runde Stöcke über ihren Köpfen. Sie holen auf, kommen näher. Immer näher …
In diesem Augenblick wache ich auf und bringe meinen Oberkörper mit einem Ruck in die Senkrechte. Es gibt ein hässliches Geräusch, ich sehe Sterne. Mein erster Gedanke ist, das Waschbecken bei Gelegenheit mit einem Kissen zu polstern. Als zweites frage ich mich, warum zur Hölle ich in meinem Badezimmer unter dem Waschbecken aufwache. Vorsichtig betaste ich meine Stirn, mein Blick fällt auf die leere Whiskyflasche unter der Heizung.
Sofort erinnere ich mich.
Ich packe ein paar Eiswürfel in einen Müllbeutel und binde mir das Zeug mit einem Schal um den Kopf. So verarztet setze ich einen Kaffee auf, schwanke ins Wohnzimmer, lasse mich aufs Sofa fallen, will den Fernseher anschalten, da entdecke ich das Post-it auf dem Bildschirm. Ein paar Sekunden überlege ich, was ich tun soll. Weil ich aber sowieso noch mal aufstehen muss, um mir den Kaffee zu holen, kann ich auch einen Blick auf den kleinen, gelben Zettel werfen. Das Kondenswasser des Eisbeutels läuft mir in die Augen, blinzelnd entziffere ich die krakelige Schrift.
14 Uhr pfeifen , steht da. Ich lasse diese Information sacken.
Offenbar hatte ich gestern Nacht noch einen hellen Moment gehabt, geahnt, wie es mir nach einem Liter Whisky am nächsten Tag gehen würde und dass ich meinem Gedächtnis auf die Sprünge würde helfen müssen. Immerhin kommt so wieder Leben in mein ansonsten totales Phlegma. Ich werde wütend. Nein, ich werde nicht wütend. Ich werde stinksauer. Der Zorn strömt in meinen Körper, das Blut schießt in meinen Kopf, die Beule pulst im Rhythmus meines Herzens. Wäre ich Hulk, meine Hautfarbe würde jetzt ins ungesund Grünliche spielen und mein Oberkörper das T-Shirt sprengen.
Mit einem Kick befördere ich das Fotoalbum und ihren Brief vom Tisch. „Blöde Schlampe“, fluche ich und habe nicht übel Lust, ein Foto von ihr an die Wand zu pinnen; zum Beispiel das, auf dem sie in die Kamera zwinkert. Ihr offenes, schönes, braunes Auge gäbe ein hervorragendes Bull’s Eye ab.
Aber ich habe keine Zeit für Gefühlsduseleien. Der niedersächsische Schiedsrichterverband hatte da eine ganz unmissverständliche Ansage gemacht. Sollte ich noch einmal unentschuldigt bei einem Spiel fehlen, würde er mich unverzüglich von seiner Liste streichen.
Es gibt zwei Gründe, warum ich in Windeseile meine Sporttasche packe, mich anziehe und mit einem Becher Kaffee ins Auto setze. Zum einen steht heute ein Pokalendspiel an. Das bringt 120 Euro, die ich gut gebrauchen kann. Zum anderen weiß ich, dass ich ihr die Schuld geben würde, wenn ich jetzt meinen Hintern nicht hochbekäme. Schließlich hatte ich mich nur wegen ihr wie ein Anfänger betrunken und befinde mich nur wegen ihr in diesem jämmerlichen Zustand. Es reicht, dass sie mich Hals über Kopf wegen eines anderen verlassen hat; ich würde ihr bestimmt nicht auch noch den Gefallen tun, mein komplettes Leben den Bach runtergehen zu lassen.
Wenn es ans Schätzen geht, bin ich miserabel, deshalb kann ich meine Promillezahl an diesem grauen, nieselverregneten Sonntagmittag im Oktober nur zwischen 0,8 und 1,6 einordnen. Jedenfalls zu wenig, um im Straßenverkehr aufzufallen, aber zu viel, um den heißen Kaffee beim Schalten an der ersten Ampel nicht in meinen Schoß zu schütten. Die leere Tasse werfe ich aus dem Fenster. War sowieso ein Geschenk von ihr. Mit einem Schaf drauf, das den Nutzer der Tasse angeblich „määääga-lieb“ hat.
Obwohl nur ein Pokalendspiel in der Bezirksklasse, ist die Straße komplett zugeparkt. Ich stelle das Auto in zweiter Reihe ab, schreibe ‚Schiedsrichter‘ auf einen Zettel und lege ihn in die Windschutzscheibe. Kurz bevor ich die Umkleidekabine erreiche, deutet ein älterer Herr mit seinem Spazierstock auf den Kaffeefleck zwischen meinen Beinen. „Na, nervös, was?“, fragt er und stößt ein heiseres Kichern aus. Wahrscheinlich hält er mich für einen Spieler der gegnerischen Mannschaft. „Jedenfalls noch nicht inkontinent“, sage ich und lasse ihn stehen. Hulk war nie wütender als ich an diesem feuchten, traurigen Sonntag, eine Viertelstunde vor Anpfiff. Und so wie Gammastrahlen aus Dr. Bruce Banner ein Monster machten, das bei dem kleinsten Anflug von Wut in einen grünen Racheengel mutiert, so durchlebe auch ich heute eine Verwandlung. Rasch ziehe ich mich um, schlüpfe in die kurze, schwarze Hose, die Fußballschuhe, die schwarzen Stutzen und das – wie passend – grüne Shirt. Als ich vor den Spiegel trete, die Augen rot und wässrig, auf der Stirn eine violette, taubeneigroße Beule, weiß ich mit absoluter Sicherheit, dass dieser Tag kein gutes Ende nehmen wird. Dies ist der letzte Augenblick, in dem es noch ein Zurück gibt. Ich könnte akute Übelkeit simulieren und habe auch das Gefühl, mich ohne Anstrengung übergeben zu können. Aber es ist zu spät. Der Zorn hat mich fest im Griff, durchfließt meine Adern und erstickt jeden Anflug von Vernunft im Keim.
Die Verwandlung ist abgeschlossen. Aus dem Spiegel blickt mir ein waschechtes und extrem angepisstes Schiedsrichtermonster entgegen.
Ich stecke mir die Gelbe Karte in die Shirt-, die Rote Karte in die Gesäßtasche, kontrolliere die Stoppuhr, stecke mir die Pfeife an den Zeigefinger und trotte gemächlich Richtung Spielfeld. Dort werde ich bereits von den beiden sogenannten ‚Vereinsschiedsrichterassistenten‘ erwartet. Echte Linienrichter gibt es in den unteren Klassen nicht, sondern nur zwei Vereinsmitglieder der jeweiligen Mannschaften. Die dürfen mir dann bei der Zeitnahme helfen, und obwohl sie Flaggen haben, dürfen sie sonst nix weiter. Wir schütteln uns die Hände, der Kopf des einen zuckt zur Seite, als er einen Schwall meines fauligen Atems direkt in die Nase bekommt. „Hören Sie mal“, sagt der andere, „die Sonnenbrille müssen Sie aber abnehmen, das ist verboten.“ Das geht ja schon gut los.
„Ich habe Migräne“, entgegne ich. „Außerdem bestimme ich hier, was verboten ist und was nicht. Und jetzt bitte auf Ihre Plätze, meine Herren, mir geht’s heute nicht so gut.“
Sie gehen weg, ich höre sie tuscheln: „Ja, ja, Migräne. Das riecht man.“
Alles nur wegen ihr.
Mein Zorn ist mittlerweile unaussprechlich. Die Seitenwahl mit den beiden Kapitänen muss per Schnick-Schnack-Schnuck entschieden werden, da ich keine Münze bei mir habe. Ich bemerke ihre irritierten Blicke auf meine Sonnenbrille, und bevor es zu lästigen Fragen kommen kann, sage ich: „Ein Augenleiden. Wie bei Heino. Und noch was: Meine Laune ist heute sehr bescheiden. Wenn ich eine Entscheidung treffe und sage, so und so ist das, dann ist das auch so. Also kommt nicht auf die Idee, wie die Babys zu plärren und um mich rumzutanzen. Und wer an mir rumzuppelt, fliegt sofort vom Platz. Ist das klar?“
Das Spiel ist zum Gähnen langweilig. Kann aber auch daran liegen, dass ich mit meinen Gedanken woanders bin.
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