Mit einem Knicks verabschiedet sie sich, geht zur Tür, öffnet sie und ist verschwunden.
Zwei Tage lang lässt sich der Vater Zeit, um zu beobachten. Besonders auf seine älteste Enkelin Spes richtet er sein Augenmerk, die, jetzt zehn Jahre alt, ihn ein wenig an seine Tochter Ruth erinnert. Sie besitzt dasselbe Temperament wie Ruth, ihr fehlt jedoch ein wenig die starke Führung, die nur ein Vater geben kann. In Gedanken nimmt er sich vor, hier später vielleicht behilflich zu werden. Ansonsten findet er die Kinder in jeder Weise vorbildlich, was ihm unter vier Augen auch von dem Kindermädchen und der erst kürzlich eingestellten Gouvernante bestätigt wird. Wie ihm der Verwalter berichtet, ist die Aussaat in vollem Gange und der landwirtschaftliche Betrieb scheint in guten Händen zu sein. Über die Schulden, die auf Kieckow lasten, kann er jedoch nur mit Ruth sprechen. Dafür, entscheidet er, ist aber noch nicht die richtige Zeit gekommen.
Am dritten Abend seines Besuchs spricht er seine Tochter in der Bibliothek direkt an: »Ruth, es ist an der Zeit, mit dem Trauern aufzuhören. Nimm Hut und Schleier ab, sie sind nicht mehr gut für dich. Kümmere dich um deine Kinder, bevor du es vielleicht einmal bereust. Und lass die Toten in Frieden ruhen, auch deinen Mann Jürgen. Gib morgen den Arbeitern die Anweisung, drei Gräber auszuheben, bestatte die Särge und verriegele die Tür zur Gruft. Ich halte den Zustand unter der Kirche für barbarisch, ja sogar für unchristlich.«
Ruth schockieren die Worte ihres Vaters und wieder fließen die Tränen so, dass sie nicht sprechen kann. Der Vater wartet geduldig, bis sie die Fassung wiedergewinnt. Dann erklärt sie ihm, die Särge von Jürgens Eltern seien nicht beerdigt worden, da sich nach dem Tod von Jürgens Vater die Geschwister nicht entschließen konnten, ihre Eltern auf dem Friedhof von Kieckow zu bestatten. Warum, wisse sie nicht, da Jürgen nie darüber sprechen wollte. Dass es mit Jürgen so nicht weitergehen könne, wisse sie. In Wirklichkeit täte es ihr weh, seinen Sarg in der dunklen Gruft sehen zu müssen, aber bislang konnte sie sich einfach noch nicht zu der Anweisung durchringen, ihn begraben zu lassen. Sie geht zu ihrem Vater und umarmt ihn voll Dankbarkeit.
Am Morgen von Vaters letztem Tag in Kieckow ergeht die Anordnung, den verstorbenen Gutsherrn beerdigen zu lassen. Am Nachmittag begeben sich Ruth, ihr Vater und die fünf Kinder zum Friedhof, wo der Pastor ohne allzu viel Emotionen eine fast nüchterne, mit vielen Gebeten angereicherte Andacht hält. Nach der Segnung hebt der Vater seine Hand, als wolle auch er die Gruppe segnen. Stattdessen erklärt er mit einer Stimme, die sonst im Parlament angebracht ist: »Die Zeit der Trauer in Kieckow ist vorbei.«
Am nächsten Morgen begleitet Ruth ihren Vater im offenen Wagen nach Belgard. Sie sitzt neben ihm und dem Kutscher auf der Bank, sie trägt ein einfaches, schwarzes Kleid, dazu einen schwarz-weißen Umhang und ihren schwarzen Hut, jedoch keinen Schleier mehr. Auf der Straße zwischen Kieckow und Klein Krössin winken die Männer von den Feldern ihrer Herrin und dem Besucher zu. Die beiden winken zurück und lächeln freundlich.
Juni. Nachdem Ruth nun nicht mehr in die Gruft gehen muss, hat sie eine andere Möglichkeit gefunden, ihren unersetzlichen Verlust zu überwinden. Sie hat sich vorgenommen, die Geschichte ihrer Ehe niederzuschreiben, damit sie und ihre Nachfahren den Mann niemals vergessen, den sie über alles liebte – Jürgen von Kleist aus Kieckow. In den langen Abendstunden des Sommers sitzt sie an ihrem Schreibtisch und beginnt, ihre Erinnerungen zu Papier zu bringen. Die Erinnerungen werden nie beendet werden. Während ihres langen Lebens schreibt Ruth immer wieder ein wenig weiter, vor allem, wenn Ereignisse der Gegenwart zu schmerzlich sind, um darüber nachzudenken. Sie erinnert sich daran, was Jürgen so einzigartig machte, ihn von allen anderen Männern unterschied, was sie so an ihm liebte, und schreibt ihre Gedanken in dem ihr eigenen Stil:
»Er war fromm im wahrsten Sinne des Wortes. Unter Frömmigkeit verstehe ich, dass ein Mensch seine Haltung, sein Tun, sein ganzes Wesen bewusst unter Gottes Willen stellt. Er führte ein Leben in der Zucht, die sich eigene Ungeduld nicht durchgehen lässt, die immer darauf bedacht ist, das Rechte zu tun. Aber er verlangte die gleiche Zucht von seiner Frau und allen, mit denen er zu tun hatte, auch von seinen Untergebenen. Er war wahrhaftig und gerecht und treu.«
Beim Schreiben dieser Erinnerungen, erlangt Ruth ihr seelisches Gleichgewicht wieder und nimmt Jürgens Hinterlassenschaft an – die Bereitschaft, die Zukunft zu gestalten, indem sie die Gegenwart meistert.
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