Jane Pejsa - Mit dem Mut einer Frau

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Geboren in gräflichem Hause in Schlesien folgt Ruth ihrer Jugendliebe Jürgen von Kleist-Retzow nach Pommern. Dort musste sie schon früh als junge Witwe die Verantwortung für den großen Gutsbetrieb und die fünf Kinder übernehmen. Ihre scharfe politische Beobachtungsgabe machte sie schon früh für die verheerenden Lehren Hitlers hellhörig. Ihr Gut wurde zu einem Zentrum des Widerstandes. Mit dem Theologen Dietrich Bonhoeffer verband sie nicht nur ihre Enkelin Maria von Wedemeyer, mit der Bonhoeffer später verlobt war. Ihre kritische Meinung und ihr aufrichtiger christlicher Glaube machten sie zur Beraterin und engen Vertrauten des 1945 in Flossenbürg ermordeten Widerstandskämpfers. Eine lebendig erzählte Biografie, die dem beispielhaften Leben von Ruth von Kleist-Retzow nachspürt – eine Persönlichkeit voller Mut und Gottvertrauen in einer von Menschenverachtung erfüllten Zeit.

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Ruth hatte immer Mitleid mit den jungen Ehefrauen empfunden, deren Männer als aktive Reservisten jedes Jahr einen ganzen Monat von ihren Familien getrennt werden. Nun muss sie diese Erfahrung selbst machen. Als ihr Vater Graf Robert die Nachricht von der Einberufung hört, lädt er Ruth umgehend ein, diesen Monat in Großenborau zu verbringen. Nach so vielen Jahren im öffentlichen Dienst ist er mit seiner Frau auf das Gut zurückgekehrt, das er nun selbst verwaltet. Ruth hat seit ihrer Heirat ihre schlesische Heimat nicht mehr gesehen und für die Kinder wird es der erste Besuch dort sein.

Am Bahnhof von Belgard vergießt Ruth Tränen beim Abschied von ihren Kindern. Der sechsjährige Hans Jürgen hält seine kleine Schwester Spes fest an der Hand, damit die quirlige Vierjährige nicht auf die Gleise fällt. Der kleine Kons­tantin, den das Kindermädchen auf den Armen trägt, lächelt tapfer und winkt seiner Mutter zu. Die vier fahren mit dem Zug voraus nach Großenborau, Ruth wird später nachkommen. Zunächst begleitet sie Jürgen nach Berlin, wo sie sein Regiment bei der Parade erleben soll, bevor es ins Manöver zieht.

Von ihrem reservierten Platz aus am Paradeplatz in Tempelhof verfolgt Ruth die großartige Parade. Ebenso wie ihr Mann lässt auch sie sich von der Atmosphäre leicht begeis­tern. Die vorbeimarschierenden Truppen mit den bunten Fahnen und den Militärkapellen, die die Melodien des Regiments spielen, begeistern sie. Schließlich ist sie eine Preußin, der alle Ideale ihrer Vorfahren, Generationen von treuen Untertanen des Königs, in die Wiege gelegt wurden.

Seit den Tagen ihrer Kindheit hat sich die deutsche Armee zu einer modernen Kriegsmaschinerie entwickelt, die bei Paraden einen großartigen Anblick bietet. Leider gelingt es ihr nicht, von ihrem Platz aus ihren Leutnant zu erkennen, sie tröstet sich jedoch mit dem Gedanken, dass ihnen beiden noch eine gemeinsame Nacht im Hotel Bellevue in Berlin verbleibt.

Früh am nächsten Morgen verabschiedet sich Jürgen in voller Uniform. Für Ruth ist es natürlich ein emotionsgeladenes Ereignis; entgegen ihren guten Vorsätzen schafft sie es nicht, ein »tapferer Soldat« zu sein.

Einen Tag später sitzt Ruth am Bahnhof Friedrichstraße geraume Zeit vor der planmäßigen Abfahrt des Zuges nach Freystadt in einem Abteil. Zum Zeitvertreib blickt sie aus dem Fenster und entdeckt zufällig ein über die Straße gespanntes Transparent. Mit Überraschung liest sie darauf die Ankündigung, das Erste Garde-Feldartillerieregiment – Jürgens Regiment – werde auf seinem Weg ins Manöver hier vorbeimarschieren. Sie ist sprachlos; in der Ferne hört sie bereits die Militärkapelle. Hastig verlässt sie ihr Abteil, steigt aus dem Zug und eilt über die Straße, um einen besseren Blick auf die herannahende Militärkapelle zu gewinnen. Hinter der Kapelle befinden sich der Kommandeur, sein Adjutant sowie der Hauptmann, alle drei hoch zu Ross. Dann folgt in präzisem Gleichschritt ein Zug nach dem anderen, jeder unter Führung eines Leutnants. Da kommt auch schon der Zug mit Jürgen an der Spitze! Einen kurzen Moment sieht er sie direkt an, ohne jedoch die geringste Regung zu zeigen. Dann ist er aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden. Sie weiß aber, er hat sie erkannt, da er mit einer minimalen Bewegung seinen Degen senkte.

Jetzt ist Jürgen also ganz Soldat und gewaltsam derjenigen entrissen, die ihn mehr als alles andere auf der Welt liebt. Ruth ist diese Vorstellung unerträglich. Tränenüberströmt kehrt sie ins Abteil zurück, verbirgt ihr Gesicht in dem gepolsterten Sitz und weint untröstlich, bis sie in Freystadt ankommt, wo sie ihre drei glücklichen Kinder auf dem Bahnsteig erblickt. Erst hier kann die junge Ehefrau und Mutter ihre Fassung zurückgewinnen. Später wird sich Ruth wegen ihres unziemlichen Verhaltens Vorwürfe machen, aber sie wird sich auch vergeben, da sie glaubt, ihr Herz habe bereits vorher gewusst, was so unerbittlich auf sie zukommen würde.

1893, Mai. Ruths und Jürgens zweite Tochter Maria wird in der Residenz des Landrats von Belgard geboren. Von Geburt an hat das entzückende kleine Mädchen dichte, schwarze Löckchen und einen fröhlichen Gesichtsausdruck.

Marias Taufe ist die erste ohne Vater Kleist, aber dafür sind Ruths Eltern sowie ihre Schwester Anni von Tresckow mit ihrem Mann Hermann anwesend. Das Kind ist gesund, die Taufschale funkelt im Licht. Kann sich eine Familie mehr wünschen?

1896, Mai. Viele Ereignisse, gute wie schlechte, treffen aufeinander. Der Pachtvertrag für Kieckow ist endlich ausgelaufen, das ganze Gut samt allen Schulden gehört jetzt also Jürgen, so wie Vater Kleist es verfügt hat. Tagelang werden leere Wagen nach Belgard geschickt, die voll beladen mit Kisten und Möbeln nach Kieckow in das Gutshaus zurückkehren. Die Mutter, ihre vier Kinder, eine Köchin, ein Dienstmädchen und das Kindermädchen ziehen einen Sommer lang von der Residenz des Landrats in das Gutshaus von Kie­ckow um. Das halbe Dorf ist in die Vorbereitungen mit eingebunden, denn seit Jahren ist für die Instandhaltung des Hauses fast nichts geschehen. Als wollten sie ihre neue Herrin willkommen heißen, blühen in Kieckow die Kastanienbäume, die Flieder- und Schneeballbüsche um die Wette. Selbst die Azaleen haben schon dicke Knospen, obwohl sie normalerweise erst in einem Monat blühen.

Für Ruth wäre dies eine Zeit höchster Freude, wäre da nicht der Auszug von Elisabeth. Während Ruth sich seit ihrem ersten Besuch vor zehn Jahren ständig auf diese Heimkehr gefreut hat, bedeutet sie für Elisabeth Vertreibung, obwohl ihr Jürgen versichert hat, ihr Zimmer stehe ihr jederzeit zur Verfügung, wann immer sie es wünsche. Sie zieht jedoch nach Berlin in die Wohnung, die sie einmal zusammen mit dem Vater und Hans Anton bewohnte. Vor seinem Tod hat der Vater sie ihr vermacht, damit sie immer ein eigenes Zuhause ganz für sich allein haben würde. Für Elisabeth ist der Einzug der neuen Herrin von Kieckow ein bitteres Los. Sie wird nur noch zweimal in das Haus zurückkehren, in dem sie aufgewachsen ist, jedes Mal zur Beerdigung eines Bruders. Mit Elisabeth geht auch das Stolbergsche Kreuz; Ruth tadelt sich insgeheim dafür, jemals dieses Symbol weiblicher Macht begehrt zu haben.

Der Bruch mit Elisabeth wird bald von Jürgens gesundheitlichen Beschwerden in den Schatten gestellt. Der Umzug war natürlich sehr anstrengend für ihn, hinzu kommt, dass er nun die ganze Woche über allein in Belgard ist. Jeden Freitagnachmittag steht die Kutsche aus Kieckow vor dem Büro des Landrats, um den Ehemann und Vater nach Hause zu bringen. Eines Tages, als Ruth ihn bei seiner Ankunft umarmt, ermahnt er sie: »Nicht so heftig, mein Liebling.« Und eines Nachts im Bett erklärt er ihr entschuldigend, aber bestimmt: »Ich muss mich heute Nacht von dir wegdrehen, meine Liebe; ich verspüre zu große Schmerzen, wenn ich auf dieser Seite liege.« Dieses Geständnis versetzt Ruth einen mindestens ebenso schmerzvollen Stich ins Herz.

Schließlich gelingt es Ruth, Jürgen von der Notwendigkeit eines Urlaubs zu überzeugen – an einem Kurort, wo er in heißen Quellen baden könne. Sie verlassen Kieckow für einen ganzen Monat; die Kinder bleiben unter der Obhut der Dienerschaft, das Gut wird vom Verwalter geführt und die Verwaltung des Kreises obliegt Jürgens Assistent. Wie gut es doch ist, sich auf seine Angestellten verlassen zu können!

September. Der Urlaub hat Jürgen gutgetan; zwar ist der Schmerz noch vorhanden, aber wenigstens fühlt er sich kräftiger. Er selbst schlägt vor, das traditionelle Erntedankfest in Kieckow wieder einzuführen, was Ruth überglücklich macht. Zum letzten Mal wurde es vor zwölf Jahren abgehalten, nach dem Tod von Mutter Kleist konnte sich der Vater jedoch nie mehr überwinden, dieses beliebte Fest wieder zu feiern. Seit ihrer Ankunft in Kieckow hat Ruth im Dorf regelmäßig Besuche gemacht. In nur vier Monaten hat sie viel über die Menschen hier gelernt – über ihre Hoffnungen, ihre Erin­nerungen und ihre Traditionen. Mittlerweile kennt sie jede Familie mit Namen. Aus Unterhaltungen mit ihnen hat sie immer wieder herausgehört, wie beliebt die Feste in Kie­ckow waren. Sie versichert ihrem Mann: »Weißt du, Jürgen, dieses Jahr wird es ein Fest wie nie zuvor geben!«

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