1887, März. Wilhelm I., Kaiser des Deutschen Reiches, feiert seinen 90. Geburtstag im Neuen Palais zu Potsdam. Das gesamte preußische Herrenhaus, darunter auch Hans Hugo von Kleist und Graf Robert von Zedlitz und Trützschler, wurde zu diesem Ereignis eingeladen. Die Feier ist mehr eine Versammlung der preußischen Aristokratie, der alten Garde, als ein Staatsakt des Deutschen Reiches. Wie üblich steht Reichskanzler Bismarck im Mittelpunkt des Geschehens. An diesem Tag scheint er erregt, er ärgert sich offensichtlich über einige von Kronprinz Friedrich Wilhelm und seiner Frau Victoria getroffene Anordnungen.
Kronprinzessin Victoria, die erstgeborene Tochter der Queen Victoria und des Prinzen Albert, hat nach Meinung Bismarcks einige gefährliche politische Ideen aus England in ihre neue Heimat mitgebracht, die auch ihren Mann infiziert haben. Ungeachtet seiner früheren Zuneigung zu englischen Frauen (ihm wird nachgesagt, als junger Mann zwei englische Schönheiten geliebt zu haben), verachtet er Prinzessin Victoria und ist voller Sorge um die Zukunft des Deutschen Reiches nach dem Tod Wilhelms I. Der in die Jahre gekommene Reichskanzler ist so beunruhigt, dass er auf eine göttliche Fügung hofft – vielleicht könnte der Kronprinz vor seinem Vater sterben? Die ganze Welt weiß von Friedrich Wilhelms schwacher Gesundheit, auch wenn es der Hof nie zugegeben hat; daher befindet sich bei dem festlichen Anlass in der großen Halle des Palastes Prinz Wilhelm, der älteste Sohn des Kronprinzen und Enkel des Kaisers und damit Zweiter in der Thronfolge, an der Seite des Fürsten Bismarck. Nachdem Hans Hugo und Graf Robert auf ein langes Leben mit vielen derartigen gesellschaftlichen und politischen Ereignissen zurückblicken können, sind sie in der Lage, politische Schlussfolgerungen aus scheinbar so banalen Dingen wie den Bewegungen des Reichskanzlers während einer Geburtstagsfeier zu ziehen. Die beiden tauschen leise, hinter vorgehaltener Hand, ihre Beobachtungen und ihre Besorgnis darüber aus.
Weit entfernt von der spannungsgeladenen Situation in Berlin geht der junge Landrat von Belgard mit Energie und voller Optimismus an seine berufliche Aufgabe. In einer geräumigen Wohnung neben der Färberei von Belgard sorgt Ruth liebevoll und zufrieden für ihren kleinen Sohn. Ein leichter Schatten, der im zweiten Jahr der vielversprechenden Ehe über dem Glück der jungen Familie liegt, steht mit der unsicheren Zukunft, über die sich die ältere Generation in Berlin sorgt, jedoch in keinem Zusammenhang. Er wird vielmehr verursacht von der besitzergreifenden Art der jungen Ehefrau ihrem Mann gegenüber, beruhend auf einer übertriebenen Angst, Jürgen zu verlieren, von der sie schon einmal, kurz nachdem sie ihn kennengelernt hatte, befallen war. Zwar schilt sie mit sich wegen ihres kindischen Benehmens, doch kann sie unglücklicherweise nur schwer die Fassung bewahren, wenn Jürgen die Nacht nicht zu Hause verbringen kann, was mindestens einmal im Monat sein muss.
60 Kilometer südlich von Belgard liegt Bad Polzin, die zweite blühende Stadt des Kreises Belgard. Jeden Monat verbringt Jürgen zwei Tage in Polzin; der Abschied ist für Ruth schier unerträglich. Vom Balkon aus beobachtet sie, wie die Kutsche in Richtung Süden auf der Landstraße ihren Blicken entschwindet, und jedes Mal bricht sie in Tränen aus.
Jürgen erfüllt die Arbeit in seinem Kreis mit großem Optimismus. Seine täglichen Aufgaben erledigt er äußerst gewissenhaft, die Fahrten nach Polzin genießt er. Er stellt Fragen und beobachtet alles genau, in der Hoffnung, die hier verwirklichten innovativen Ideen in Belgard einführen zu können. Glücklicherweise wird er nicht abgelenkt durch Gedanken an die auf dem Balkon weinende, vom Abschiedsschmerz überwältigte Ruth. Weder sie noch die Dienstboten werden ihm je ein Sterbenswörtchen davon erzählen.
Auf seinen Besuchen in Polzin tankt Jürgen Energie und Inspiration. Außer der Einwohnerzahl – in beiden Städten leben etwa 3 000 Menschen – haben Belgard und Polzin so gut wie nichts gemeinsam. Belgards Gründung geht zurück auf Jürgens Vorfahren Klest, der im 13. Jahrhundert dem Deutschen Ritterorden nach Pommern folgte, während Polzin im 16. Jahrhundert unter polnischer Herrschaft entstand und ursprünglich von jüdischen Siedlern bewohnt war. Heute sind zehn Prozent der Bevölkerung jüdisch, die Stadt ist reich an vorbildlichen, modernen Unternehmen – ein blühendes Zentrum des Handels in der sonst trägen pommerschen Wirtschaft. Die Juden sind hauptsächlich im Viehhandel und in der Lederherstellung beschäftigt. Daneben gibt es die nichtjüdischen Weber, deren Fleiß und Handwerkskunst die Stadt in ganz Preußen berühmt gemacht und ihr einen beneidenswerten Reichtum verschafft haben. Die Straßen in Polzin sind gesäumt von prächtigen, aus Ziegel und Stein gebauten Wohn- und Geschäftshäusern, umgeben von sorgfältig gepflegten öffentlichen Promenaden und Parks. In der Stadt verkehren so viele Kutschen wie nirgendwo sonst im ländlichen Pommern. Für den Kreis Belgard ist es ein Segen, über ein so reiches Zentrum innerhalb seiner Grenzen zu verfügen. Jürgen hegt den Wunsch, die Lebendigkeit und die außerordentlichen Leistungen Polzins auch in die nördlichen Randgebiete seines Bezirks übertragen zu können.
Diesbezügliche Pläne hat er bereits mit seinem Vater besprochen, der vor 30 Jahren ähnliche Beobachtungen gemacht und Vergleiche angestellt hat. Als der Vater noch Landrat von Belgard war, setzte er beispielsweise bei der Kreisverwaltung höhere Steuern auf Grundbesitz durch, die dem Polziner Krankenhaus zuflossen, damit jeder Bürger des Kreises kostenlose medizinische Behandlung erhalten konnte.
Für Vater Kleist ist das Leben eine Schwarzweißmalerei mit wenigen Grauschattierungen dazwischen. Vor zehn Jahren hatte er damit begonnen, sich sehr für eine neue politische Bewegung, die Christlich-soziale Partei, zu engagieren. Diese Bewegung wurde von Adolf Stoecker ins Leben gerufen, dem charismatischen Oberhofprediger, dem Vater Kleist sehr zugetan war. Der Name von Stoeckers Vereinigung besagt bereits, wofür sie sich einsetzt – soziale Reformen, Verbesserung der Situation der Arbeiterschaft, Verminderung der Klassengegensätze und vor allem für eine Verbrüderung auf christlicher Basis. Einem feudalistischen, vom Konservativismus durchdrungenen Menschen, der gleichzeitig vom Geist der Wiederbelebung des Christentums im Pommern des 19. Jahrhunderts erfüllt ist, bieten Stoeckers radikale Ideen eine gesellschaftliche Erneuerung im evangelischen Sinne.
Die Kehrseite dieser Partei ist ihr heftiger, eklatant zur Schau getragener Antisemitismus, den Kronprinz Friedrich Wilhelm als »Schande und Schmach für Deutschland« bezeichnet hat. Hans Hugo ist sich der Schattenseite von Stoeckers christlichem Idealstaat wohl bewusst, verteidigt ihn aber mit der Aussage, die Darstellung der Juden sei nicht ganz ungerechtfertigt und überhaupt nur Teil eines Programms, mit dem die geistigen Qualitäten ganz Deutschlands neu belebt werden könnten.
Männer wie Hans Hugo haben eine zwiespältige Einstellung zu den wenigen Juden, denen sie im täglichen Leben begegnen. Zum einen bewundert er die Betriebsamkeit der Stadt Polzin, des Handelszentrums des Kreises Belgard, dessen Mittelschicht von Juden dominiert wird. Dennoch distanziert er sich von allen Juden mit der Behauptung, sie seien nicht besser als Straßenmusikanten. Als sein Sohn sein Befremden über diesen unpassenden Vergleich äußert, berichtet ihm der Vater von seinen Schwierigkeiten, als er noch für Kieckow zuständig war.
Damals gab es nichts Schlimmeres für die Arbeit auf dem Gut als eine Gruppe von Straßenmusikanten. Sie kamen morgens, blieben den ganzen Tag, machten Musik für das ganze Dorf und kassierten bei den Dorfbewohnern ab. Die Arbeiter opferten ihre letzten, hart verdienten Münzen, eine reine Geldverschwendung für die Leute und ein verlorener Arbeitstag für den Gutsbesitzer. Nach Vater Kleists Ansicht seien die jüdischen Händler nicht besser. Sie kamen nach Kieckow in der Absicht, Tierhäute zu kaufen, kamen aber nur dann, wenn der Gutsverwalter nicht da war. Die Arbeit im Dorf kam zum Stillstand, während sie zankten und feilschten und Geld oder wertlosen Plunder anboten im Tausch gegen die großen und kleinen Häute, welche die Männer während der Saison zusammengetragen hatten. Dafür bekamen sie nach Vaters Überzeugung viel weniger, als die Häute wert waren, weswegen er seit dieser Zeit die Juden in Kieckow nicht mehr duldete.
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