Jane Pejsa - Mit dem Mut einer Frau

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Geboren in gräflichem Hause in Schlesien folgt Ruth ihrer Jugendliebe Jürgen von Kleist-Retzow nach Pommern. Dort musste sie schon früh als junge Witwe die Verantwortung für den großen Gutsbetrieb und die fünf Kinder übernehmen. Ihre scharfe politische Beobachtungsgabe machte sie schon früh für die verheerenden Lehren Hitlers hellhörig. Ihr Gut wurde zu einem Zentrum des Widerstandes. Mit dem Theologen Dietrich Bonhoeffer verband sie nicht nur ihre Enkelin Maria von Wedemeyer, mit der Bonhoeffer später verlobt war. Ihre kritische Meinung und ihr aufrichtiger christlicher Glaube machten sie zur Beraterin und engen Vertrauten des 1945 in Flossenbürg ermordeten Widerstandskämpfers. Eine lebendig erzählte Biografie, die dem beispielhaften Leben von Ruth von Kleist-Retzow nachspürt – eine Persönlichkeit voller Mut und Gottvertrauen in einer von Menschenverachtung erfüllten Zeit.

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Am späten Nachmittag begeben sich Ruth und Jürgen auf Hochzeitsreise. Die Kutsche aus Großenborau, deren Messingbeschläge in der Sonne funkeln, steht schon bereit. Der Kutscher befindet sich auf seinem Platz und der alte Diener der Familie, der Ruth die Tür aufhält, verabschiedet sie mit den Worten: »Gnädige Frau, Gottes Segen sei mit Ihnen.« Was für ein eigenartiges Gefühl, gnädige Frau genannt zu werden! Selbst in Großenborau wird sie nie wieder »Konts Ruth« sein.

II

Die Frau des Landrats

1886–1897

Besuch in Kieckow

Februar. Die Hochzeitsreise beginnt am Bahnhof von Oppeln. Mit dem Schnellzug fahren Ruth und Jürgen nach Breslau, von dort über Posen nach Berlin. In der Berliner Wohnung von Jürgens Vater wird Ruth mit ihrer neuen Rolle als Schwägerin von Elisabeth und Anton, Jürgens Geschwistern, konfrontiert. Die beiden lassen sie eine gewisse Zurückhaltung spüren und Ruth fragt sich, woran das liegen mag. Es ist die erste Enttäuschung in ihrer jungen Ehe, wodurch ihre seit dem Hochzeitstag anhaltende Begeisterung etwas gedämpft wird.

Ruths anfänglicher Respekt Vater Kleist gegenüber entwickelt sich schnell zu einer immer tiefer werdenden Zuneigung, was sie selbst überrascht, denn ihr Schwiegervater besitzt weder die Flexibilität noch den Optimismus, den sie an ihrem eigenen Vater so liebt. Ihr Schwiegervater gilt als Konservativer unter den Konservativen. Er sieht mit eher negativen Erwartungen in die Zukunft – sowohl die Politik und die Religion als auch private Familienangelegenheiten betreffend.

Vor 40 Jahren hatten Vater Kleist und Otto von Bismarck ein kleines Zimmer in einer bescheidenen Pension in Berlin geteilt. Sie waren beide Aristokraten und Mitglieder des preu­ßischen Herrenhauses. Bismarck hatte gerade Johanna von Puttkamer, Hans Hugos Nichte, geheiratet, sodass Hans Hugo von Kleist zu »Onkel Hans« für seinen Freund und Altersgenossen wurde. Damals war Bismarck noch ein Gegner der liberalen und nationalistischen Ideen, die sich in Preußen, aber auch in anderen deutschsprachigen Ländern und fast in ganz Europa schnell ausbreiteten, er war also mit Hans Hugo von Kleist noch einer Meinung. In dieser Zeit schien es Bismarck in den Augen von Hans Hugo an der richtigen Frömmigkeit zu fehlen, was Hans Hugo durch tägliche Gebete und Gespräche mit ihm in der gemeinsamen Unterkunft zu verbessern suchte.

Die Herkunft und die Lebenseinstellung dieser beiden Landbesitzer aus Pommern hatten einen gemeinsamen Ursprung. Ihre Übereinstimmung ging so weit, dass Bismarck seinen noch ledigen Onkel bei der Wahl seiner Braut – Gräfin Charlotte zu Stolberg und Wernigerode – beriet, ja weit mehr noch, er schritt sogar ein, als Hans Hugo von Kleist seinen Heiratsantrag so lange hinausschob, bis Komtess Charlotte als Probeschwester ins Diakonissenmutterhaus eingetreten war und kurz vor der Einsegnung als Diakonisse stand.

Im Laufe der Jahrzehnte verblasste Otto von Bismarcks preußische Grundhaltung, ganz zu schweigen von seiner Einstellung gegenüber Pommern. Er wurde zu einem immer stärkeren Verfechter eines expandierenden deutschen Reiches, nämlich des von ihm geschaffenen Nationalstaates. Als überragendem Politiker gelang es ihm, Feinde in Verbündete und Freunde in Gegner zu verwandeln, ganz nach Bedarf seiner politischen Zielsetzung.

In jenen Tagen zeigt sich in Vater Kleists Gesichtsausdruck ein gewisses Unbehagen, das selbst in glücklichsten Momenten nicht von ihm weicht. Ruth vermutet, seine Traurigkeit sei auf die Politik zurückzuführen, da allgemein bekannt ist, dass Otto von Bismarck Hans Hugo von Kleist und Gleichgesinnte öffentlich zu »Reichsfeinden« erklärt hat.

Ruths Mutmaßungen sind jedoch nur teilweise richtig. Die Sorge um die Zukunft seiner Heimat und seiner Län­dereien in Pommern beschäftigt Kleist in zunehmendem Maße. In schlaflosen Nächten grübelt er darüber nach, wie er seine Güter Kieckow und Klein Krössin seinem jüngeren Sohn vermachen könnte, ohne seine beiden anderen Kinder zu verletzen, die unverheiratet sind. Im preußischen Adel plant man für die zukünftigen, noch ungeborenen Generationen.

Am Ende ihres Aufenthalts in Berlin besteigen Ruth und Jürgen wieder den Zug und hoffen, nun etwas mehr Zeit füreinander zu finden. Die letzte Etappe ihrer Reise führt sie nach Köslin in Pommern, wo Jürgen seinen ersten richtigen Posten in der königlichen Verwaltung antreten wird. Von Berlin aus reisen sie in Richtung Nordosten, überqueren die Oder und fahren langsam von Ort zu Ort in Richtung Ostsee. Hier gibt es keine Schnellzüge, denn das Land ist nur dünn besiedelt – ein deutliches Zeichen, dass Pommern nicht mit Schlesien vergleichbar ist. Die Landschaft unterscheidet sich sehr von der Umgebung Großenboraus mit den hübschen Dörfern, den sauberen Häusern mit den rot gedeckten Dächern und gepflegten Gärten. Allein wäre Ruth vielleicht versucht gewesen umzukehren, aber mit Jürgen an ihrer Seite würde sie ohne zu zögern in eine Wüste ziehen, was Pommern nun wirklich nicht ist!

Als Ruth und Jürgen mit dem Zug in Köslin ankommen, ist es kalt und düster, die Stadt liegt unter einer Schneedecke begraben. Die winterliche Stimmung verstärkt noch die graue Monotonie. Selbst das Haus, in das Jürgen seine Braut bringt, ist äußerlich, auch für niedrigste Ansprüche, trostlos – die Wohnung befindet sich über einem kleinen Geschäft. Ruth und Jürgen erreichen ihre Räume im zweiten Stock des schmucklosen Steinhauses über eine dunkle Treppe. Die Zweifel, die Ruth über ihr neues Heim am Ende der Treppe gehabt haben mag, verfliegen jedoch schnell. Jürgen öffnet mit Schwung die Tür und als Ruth die Wohnung betritt, steht vor ihr eine ehemalige Spielgefährtin ihrer Kindheit aus dem Dorf in Großenborau in einem frisch gestärkten Dienstmädchenkleid. Voller Freude umarmt Ruth die junge Frau, vergessend, dass Herrin und Bedienstete immer eine gewisse Distanz wahren sollten.

Ruths Blicke wandern über die frisch gestrichenen und renovierten Räume, die ihr neues Heim sein werden. Wie jedes der sechs Zimmer wurde auch der Eingangsraum von Jürgen speziell für seine junge Frau eingerichtet – zwar spärlich, aber hier und dort befinden sich kleine Dinge und Erinnerungsgegenstände aus Kieckow. Den Fremdenführer in einem touristischen Bergdorf nachahmend, erklärt Jürgen mit wichtiger Stimme, dies sei der »Berliner Salon«, eine Kombination von Ess- und Wohnzimmer, wie sie in den großen, modernen Wohnungen in Deutschlands Hauptstadt jetzt üblich ist. Eingerichtet ist dieser Salon unter anderem mit einem prächtigen alten Büfett mit Bleiglastüren; dahinter entdeckt Ruth im Licht der Wandleuchter funkelnde Kristallgläser. Sie waren unter den Hochzeitsgeschenken, die alle vorausgeschickt worden waren. Es besteht kein Zweifel, das Dienstmädchen musste während seiner ersten Tage in Pommern sehr emsig gearbeitet haben. Am Arm führt Jürgen Ruth in das kleine Arbeitszimmer, dort ist ein Schreibtisch ganz für sie allein. Dann geht es weiter in einen sonnigen Salon, wo sie ihren Nachmittagstee einnehmen werden. Zurück im Berliner Salon treten sie durch die halb geöffneten Doppeltüren in das etwas dunkler gehaltene Herrenzimmer mit den schweren Aschenbechern und der Zigarrenkiste und weiter in das Schlafzimmer mit dem großen Doppelbett und einem riesigen Kleiderschrank. Mit den Worten: »Dies ist unser Raum«, nimmt Jürgen seine frisch angetraute Frau in die Arme.

Ruth und Jürgen von Kleist auf ihrer Hochzeitsreise An ihrem ersten Sonntag in - фото 5

Ruth und Jürgen von Kleist auf ihrer Hochzeitsreise

An ihrem ersten Sonntag in Köslin bereitet sich Ruth auf den lang erwarteten Besuch in Kieckow vor. Trotz des Neuschnees und der eisigen Kälte lässt Jürgen die Kutsche vom Gut nach Köslin kommen, um seine junge Frau und ihn zum ersten Besuch ihres späteren Zuhauses abzuholen. Die Entfernung beträgt 36 Kilometer, sodass der Kutscher noch bei Dunkelheit aufbrechen muss. Einige Stunden später stehen Pferde und Kutsche vor dem Haus in Köslin bereit.

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