Würde Gott Oscars verleihen, dann würde er heute sagen: »Hey, nominiert seid ihr alle!« Und die Frage lautet nicht: »Wer gewinnt?«, sondern: »Holst du dir den Preis ab?« Zu Deutsch: Kannst du das glauben? Denn dann wirst du dich tatsächlich ausgezeichnet fühlen.
Trotzdem: Sollten Sie gerade überlegen, einen Oscar für Radiopfarrer zu stiften … Ich wäre da nicht abgeneigt …
MÄRZ
7
Kennen Sie die Geschichte von dem Bauern, der beim Wandern ein Adlerküken entdeckt, das aus dem Nest gefallen ist, und es mit nach Hause nimmt? Ich liebe diese Geschichte. Der Bauer findet also einen jungen Adler und zieht ihn mit seinen Hühnern groß. Der Adler lernt, wie man pickt und gackert und auf einer Stange sitzt. Nur mit dem Eierlegen klappt es nicht so richtig.
Eines Tages kommt dann ein Fremder auf den Hof, sieht den Adler und fragt den Bauern: »Wieso benimmt der sich wie ein Huhn?« »Ach«, sagt der Bauer, »das ist eigentlich ein Huhn. Lassen Sie mir das Viech bloß in Ruh!« Doch der Fremde beugt sich zu dem Vogel und sagt: »Hey, du bist ein Adler. Du kannst fliegen. Du gehörst in den Himmel, nicht auf den Boden.«
Das Schlimme ist: Der Adler hat sich an das Hühnerdasein gewöhnt und wagt es nicht, seine Flügel zu benutzen. Auch dann nicht, als der Fremde ihn hoch in die Luft hält: »Du bist ein Adler. Du kannst fliegen. Du gehörst in den Himmel.« Nichts. Erst als der Mann mit dem Adler ins Gebirge steigt und der die Hühner nicht mehr sieht, wagt er es, seine Schwingen auszubreiten. Und dann fliegt er davon. »Du bist ein Adler. Du kannst fliegen. Du gehörst in den Himmel.«
Ich liebe diese Geschichte, weil sie einige Kernaussagen der Bibel wiedergibt: Jeder Mensch ist wie dieser Adler. Und leider gibt es zu viele Bauern, die ihm einreden wollen, er sei ein Huhn. Ein Adler gehört aber nicht in den Hühnerhof, er braucht die Dimension des Himmels, um sich entfalten zu können. Es ist falsch, wenn Adler die Möglichkeiten, für die sie geschaffen sind, nicht ausnutzen und niemals fliegen. Und es ist traurig, wenn Menschen die Weite des Himmels in ihrem Leben nicht finden.
MÄRZ
8
Eine entsetzliche Tat. 16 Tote, weil ein Jugendlicher durchgedreht ist. Weil er um sich geschossen hat, als wäre ein Leben nichts wert. Gar nichts. Und alle versuchen verzweifelt, Worte für das Unsagbare zu finden. Als ob Worte erklären könnten, was da Mitte März 2009 in Winnenden passierte.
Gerade am ersten Abend nach der Katastrophe. Da wurde ziemlich viel geredet. In den Medien. Ausführliche Analysen, Kommentare und Diskussionen. Und die klangen oftmals so, als könne man den Schrecken in den Griff bekommen, wenn man eine Erklärung findet. In Sondersendungen, Talkshows und Magazinen. »Also, ich denke, dahinter steckt Folgendes …«
Aber vielleicht, vielleicht können wir das Leben mit seinen Grenzen und seinen Abgründen gar nicht endgültig durchschauen. Wie wir immer meinen. Und wie wir es gerne hätten. Ja, möglicherweise werden wir trotz aller Expertenmeinungen nie begreifen, warum der angeblich unauffällige Tim plötzlich zu einer Waffe gegriffen und all diese Menschen hingerichtet hat.
Darum hat mich der Satz eines kirchlichen Notfallseelsorgers sehr berührt. Der hat nämlich gesagt: »Um ehrlich zu sein … Mir fehlen die Worte. Ich bin sprachlos. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich kann den Betroffenen keine Erklärungen anbieten. Ich kann nur eines machen, nämlich da sein. Ja, ich bin für sie da.«
Das ist dem Erschrecken angemessen. Finde ich. Und ich frage mich manchmal, ob wir nicht eine Gesellschaft brauchen, in der insgesamt weniger erklärt wird und in der wir einfach mehr füreinander da sind. Und das Leben gemeinsam aushalten.
MÄRZ
9
Manchmal sieht man mit bloßem Auge einfach nichts. Überhaupt nichts. Trotzdem ist da was. Nur reicht unser Auge nicht aus, um es zu erkennen. Nun, bei Dingen, die für unsere Wahrnehmung einfach zu klein sind, hilft zum Beispiel ein Mikroskop. Klar, das kennen wir alle. Nebenbei: Das erste Mikroskop hat 1590 ein niederländischer Brillenmacher erfunden. Und inzwischen gibt es Lichtmikroskope, die ein Objekt bis zu 10 000-fach vergrößern. Nicht schlecht, oder?
Doch selbst das reichte den Wissenschaftlern nicht. Sie wollten noch genauer hingucken. Also testete der Physiker Ernst Ruska am 9. März 1931 zum ersten Mal eine unglaubliche technische Apparatur. Eine, die das Objekt nicht mit Licht, sondern mit Elektronen abtastet. Und diese neue Technik ermöglicht tatsächlich eine Vergrößerung um das bis zu 500 000-fache. Wow! Mithilfe solcher Elektronenmikroskope haben die Forscher so manches wissenschaftliche Rätsel gelöst, das mit einem Lichtmikroskop undurchschaubar geblieben wäre.
Als Pfarrer kann ich da nur schmunzeln: Natürlich gibt es vieles, was wir mit unseren normalen Sinnen nicht wahrnehmen können. Zum Beispiel Mikrostrukturen. Oder Gott. Und während die Wissenschaftler für die Erforschung der winzigen Dinge das Elektronenmikroskop entwickelt haben, gibt es für den Zugang zu Gott den Glauben. Und irgendwie sind Glaubende ja auch Forscher. Sie gehen so wunderbaren Dingen auf den Grund wie Liebe, Vertrauen, Hoffnung, Sehnsucht und Sinn. Bisweilen eröffnen sich dabei ganz neue Welten.
MÄRZ
10
Wissen Sie, was eine Spektralanalyse ist? Also, ich hatte keine Ahnung. Spektralanalyse? Gut, klingt irgendwie nett. Aber was ist das?
Mal ganz von vorne: Am 10. März 1814 macht der bayerische Physiker Joseph von Fraunhofer eine total verblüffende Beobachtung. Er schreibt später: »Ich entdeckte beim Betrachten der Sonne mit dem Fernrohr unzählig viele dunkle Linien – einige scheinen fast schwarz zu sein.« Schwarze Linien? Im Sonnenlicht? Häh?
Es dauerte fast 50 Jahre, bis das Geheimnis dieser Striche gelüftet wurde. Jeder chemische Stoff sendet beim Verbrennen ein charakteristisches Licht aus. Und dabei fehlen immer bestimmte Farben aus dem Farbspektrum, die dann als dunkle Linien beobachtet werden können.
Sprich: Wenn ich das Licht analysiere, das ein Körper aussendet, kann ich sagen, woraus er besteht. Ja, das klappt sogar bei unendlich weit entfernten Sternen. Und das Verfahren dazu heißt Spektralanalyse. Irre, oder?
Als Theologe fasziniert mich daran vor allem eines: Der Physiker Fraunhofer musste erst eine eigene Betrachtungsweise entwickeln, bevor er diese charakteristischen Linien sehen konnte. Denn für das bloße Auge sind sie nicht sichtbar. Und ich frage mich, ob es bei Gott nicht ähnlich ist. Man muss erst lernen, ihn wahrzunehmen. Sein Licht zu entdecken. Vielleicht heißt es ja deshalb in der Bibel: »Der Mensch sieht immer mit den Augen, aber Gott sieht das Herz an.«
Auf dem Grabstein von Fraunhofer steht jedenfalls ein bewegender Spruch: »Er hat die Sterne näher gerückt.«
MÄRZ
11
Gedenktag für die Opfer des Terrorismus
Am 11. März 2004 kamen bei Terroranschlägen in Madrid 192 Menschen ums Leben. Seither wird der 11. März als »Europäischer Gedenktag für die Opfer des Terrorismus« begangen.
Nun muss ich ehrlich sagen: Manchmal können einem die ewigen Gedenktage fast schon auf die Nerven gehen. Andererseits: Wer sich nicht erinnert, der ist auch nicht wachsam in der Gegenwart. Und wer nicht wachsam ist, der zeigt, dass er aus der Vergangenheit nichts gelernt hat.
Also: Woran denken wir heute? An die Menschen, die einen sinnlosen Tod sterben mussten, weil irgendwelche Wahnsinnigen Europa in Angst und Schrecken versetzen wollen? Daran, dass jemand, der Unschuldige für seine Ideale opfert, immer unrecht hat? Oder daran, dass endlich die vielen Ursachen für Terrorismus beseitigt werden müssen: Unzufriedenheit, Ungerechtigkeit und Hass?
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