Er stand auf und tigerte zur Balkontür. Er öffnete sie und trat auf den weiten, gekachelten Anbau hinaus. Die milde Nachtluft hauchte seinen kalten Knochen und seinen steinernen Gefühlen etwas Leben ein.
Betrogen. Er hasste es. Es gab nichts Schlimmeres. Nichts. Und dieser besondere Betrug schnitt ihm tief ins Mark.
Jack schlug mit der flachen Hand auf das glatte, kalte Geländer. Vor dem Hintergrund des Straßenlärms hörte man das leise Geräusch kaum. Irgendwo auf dem Fluss stöhnte das Horn eines Schleppdampfers. Und die Melodie der Lichter, die von der Skyline Manhattans aus Richtung Brooklyn strömte, verursachte lange, geschwungene Wellen auf der Wasseroberfläche.
Er hob die Hand und griff nach der Stadt – nach den Gebäuden, den Lichtern, der Brücke, den wimmelnden Straßen, dem Erfolgsversprechen. Es sollte doch alles so einfach sein. Streck die Hand aus, nimm, was du willst, und halt es fest.
Aber nein, er war doch Jack Forester. Wie konnte er das nur vergessen? Das Leben weigerte sich, ihn ganz einzulassen. Alles, was er wollte, wurde ihm weggerissen. Weg. Gerissen. Mit der Zeit. Keine Übertreibung. Er könnte ein verfluchtes Buch darüber schreiben.
Heute hatte er nicht nur einen Stammkunden von 105 verloren, Hops bedrängte ihn nach wie vor wegen London.
„Was machst du denn hier draußen?“ Taylors Stimme unterbrach ihn, ein weicher Meißel gegen den harten Fels seiner Gedanken.
Er sah hin, als sie durch die Tür auf den Balkon trat. Der Saum ihres Nachthemds streifte kaum ihren Beinansatz. Mann, sah sie gut aus mit ihrem wirren Haar, das ihr unordentlich über die Schultern fiel. Das geisterhafte Licht der Straßenlaternen berührte ihr Gesicht.
„Es ist spät. Du solltest schlafen.“
„Es ist nicht spät.“ Sie kam an seine Seite, stützte die Arme auf dem Geländer ab und hielt das Gesicht in die Nachtluft. „Es ist früh. Ein Uhr morgens. Wo warst du denn?“
„Arbeiten.“
An jenem Nachmittag, als er auf dem Weg zurück zu seiner Agentur auf der Straße in sie hineingerannt war, war er besorgt und abwesend gewesen, nachdem er mit einem Kunden gestritten hatte. Die Kälte und die wechselhaften Januarwinde stachelten seine Irritation nur weiter an.
„Hey, pass doch auf.“ Er versuchte, dem menschlichen Hindernis auszuweichen, das da um die Ecke der 67. bog, aber sie bewegte sich in dieselbe Richtung.
„Entschuldigung, ich habe nicht aufgepasst … Jack? Jack Gillingham?“
Als er in ihre königsblauen Augen sah, ließ seine Anspannung etwas nach. „Taylor Branson?“ Er umarmte sie, und als ihr Lachen sein Ohr küsste, verstummte das Grollen in seiner Brust. „Was machst du hier in New York City? Und es ist Forester. Gillingham war der Name meiner Pflegeeltern.“ Er trat zurück und ließ sie los, obwohl er das eigentlich gar nicht wollte, weil die Kälte sofort die Stelle an seiner Brust beanspruchte, wo er gerade noch ihre Wärme gespürt hatte.
„Ich wohne jetzt hier.“ Sie klopfte auf ihre Fototasche. „Ich bin im Juni von L.A. hierhergezogen.“
„Warum? Ist dir der Sonnenschein auf die Nerven gegangen?“
Wieder lachte sie, und sein Werbegehirn sagte ihm, er könnte Milliardär werden, wenn er nur den Klang ihres Lachens in Flaschen abfüllen könnte. „Ich habe einen Tapetenwechsel gebraucht. Ein Freund hat eine Reihe Aufträge klargemacht, und da habe ich mir das Auto gepackt und bin einmal durch das ganze Land gefahren.“
„Wie steht es im alten Heart’s Bend? Warst du mal da?“
„Zu Weihnachten. Und ja, ist schon okay da. Meiner Granny geht es nicht so gut, aber es war …“ Sie zuckte mit den Schultern. Ein Hauch Traurigkeit lag in ihrer Stimme. „Du? Warst du in letzter Zeit mal da?“
„Nein, meine Arbeit hält mich auf Trab. Ich bin Seniorberater bei 105.“ Der Schnee fiel dichter, und er entdeckte einen bläulichen Schimmer auf ihren Lippen.
„105? Sehr schick. Für die würde ich auch gerne einmal arbeiten. Aber wie ich höre, ist Hops Williams nicht gerade einfach.“
„Das stimmt schon, aber wenn man ein paar Tricks kennt …“ Er zwinkerte und freute sich über das Lächeln, das sie ihm zur Antwort schenkte. „Sag mal, ich erfriere gleich. Kann ich dich auf eine Tasse Kaffee einladen? Oder Tee oder so?“
„Na ja …“ Sie schaute himmelwärts, betrachtete prüfend die Schneewolken. „Mein Auftrag wurde gerade abgesagt. Aber was genau meinst du eigentlich mit ‚oder so‘?“
Sie hatte ihn. Genau da und dort. „Mittagessen?“
„Perfekt. Ich bin verhungere.“
Aus dem Mittagessen wurden ein Schaufensterbummel, eine Pause in einem Café, dann ein Abendessen. Danach ein Treffen auf einen Kaffee am Morgen. Wieder ein Abendessen. Genauer gesagt, jeden Abend ein Abendessen, bis zu ihrer spontanen Hochzeit.
„Jack?“ Taylors Berührung holte ihn aus seiner Erinnerung. „Du warst arbeiten?“
„Ja, tut mir leid, ich wollte eigentlich anrufen. Wie war dein Tag?“ Hatte sie nicht einen Fototermin oder etwas in der Art gehabt? Stimmt, für Morgen ist ein neuer Tag . Vermittelt durch den arroganten Doug Voss.
„Gut.“ Ihre Antwort unterstrich sie mit schnellen Gesten. „Der Shoot mit dem Ensemble von Morgen ist ein neuer Tag ist gut gelaufen. Ich habe Colette gesehen.“
„Ja, was hat sie denn gesagt?“
„Gar nichts eigentlich. Ich meine, wir sind wie Fremde. Wir haben das gleiche Blut in den Adern, aber das war’s auch schon. Obwohl Addison fand, wir sähen uns ähnlich.“
„Die Macht der Suggestion. Das beste Werkzeug in der Werbebranche.“
„Und der Grund dafür, dass wir glauben, eine Pille könnte uns schlank machen.“
Sie beugte sich zu ihm, und er atmete einen Teil seiner Wut aus, aber nicht genug, um ihn von der Kante wegzuholen. Dort fühlte er sich wohl. Da hatte er den größten Teil seines Lebens verbracht. „Hat sie etwas über den Tod deiner Granny gesagt?“
„Nein. Sie hat mich einem ihrer Co-Stars als ihre Nichte vorgestellt, aber sonst hätte man auch nicht gemerkt, dass wir zur selben Familie gehören. Oh Jack, sie ist hinreißend. Sie sieht aus, als wäre sie siebzig.“
„Wie alt ist sie denn?“
„Ein Jahr jünger als Granny. Also zweiundachtzig?“
„Hmmm. Hat vielleicht eine Pille genommen, damit sie jung bleibt?“
Taylor schubste ihn mit der Hüfte. „Sehr witzig.“
„Wie hast du dich wegen Voss entschieden?“ Der Unterton lag wieder in seiner Stimme. Er hörte es. Er fühlte es.
Sie wich zurück. „Was meinst du, wie ich mich entschieden habe?“
„Wirst du die Emmys fotografieren?“
„Echt jetzt, Jack? Willst du, dass ich mit Doug nach L.A. fahre?“
„Es ist ein Auftrag.“ Er konnte sich selbst hören. Und er klang dumm. Aber er wollte selbstbewusst sein. Sie wissen lassen, dass er mit allem umgehen konnte, was da auf ihn zukommen mochte. „Ich muss mir doch um nichts Sorgen machen, oder?“ Wenn sie immer noch Gefühle für Voss hatte, dann ab an die Oberfläche damit.
„Das kann nicht dein Ernst sein.“ Er fühlte die Wärme ihres Seufzers. „Warum sagst du mir nicht, was nicht stimmt?“
„Nichts.“
Sie rutschte nach rechts, weg von ihm. „Übrigens haben die Leute vom Architecture Quarterly angerufen. Danke für den Auftrag. Sie haben gesagt, sie bräuchten mich nächstes Wochenende. Rate mal, wo.“
„L.A.?“ Sarkasmus war seine Grundeinstellung.
„Okay, Jack, fein.“ Taylor wandte sich zur Tür. „Dann sei halt hier draußen und schmolle. Ich habe keine Zeit für so was.“
„Warte.“ Er streckte die Hand nach ihr aus. Seine Fingerspitzen berührten die weiche Unterseite ihres Unterarms. „Schlechter Tag. Also, wo ist denn der AQ -Termin?“
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