Die Häuser sahen ähnlich aus wie in Amsterdam, wie zu große Spielzeughäuser mit hölzernen, geschwungenen Fensterläden, die schmale verzierte Leisten hatten. Alle Häuser hatten ganz kleine Gärten. Das Haus der beiden war voll mit schönen alten Möbeln, die wie geschnitzt aussahen, in allen Zimmern waren die Wände bis unter die Decke vollgestellt mit Büchern. Vor dem Wohnzimmer gab es einen kleinen Wintergarten, von dem aus man in das mit Brombeeren und anderen süß-sauren grünen Beeren und Blumen vollbewachsene Gärtchen sehen konnte.
Dort saß ich mit Onkel Otto an einem kleinen Tisch mit geschwungenen Eisenfüßen und er brachte mir, obwohl Yella ihm das verboten hatte, das Rülpsen bei. Man musste nur etwas Luft schlucken und dann die geschluckte Luft herauspressen – und schon war es ein Rülpser! Für jeden gelungenen Rülpser bekam ich einen Penny, große dunkelbraune Münzen, aus denen ich einen Turm baute. Onkel Otto lachte sich jedes Mal krumm und schief, wenn ich es geschafft hatte, und sein zerknittertes Gesicht wurde noch zerknitterter. Bald war der Anreiz, ihn zum Lachen zu bringen, größer, als weitere Pennys zu verdienen.
»Warum kommst du nie nach Deutschland?«, fragte ich ihn einmal, weil ich das schon lange fragen wollte.
Onkel Otto dachte nach. »Wenn ich dir das jetzt erkläre, würde Yella sagen, du seist noch zu klein dafür. Aber du bist schon groß, du verstehst das!«
Meine Brust schwoll – und meine Ohren.
»Du siehst die vielen Bücher hier«, fuhr Onkel Otto fort und zeigte auf die rundum mit Büchern überladenen Regalwände.
»Ich liebe Bücher«, platzte es aus mir heraus, ich konnte nämlich schon lesen und schreiben.
»Gut so«, sagte Onkel Otto, »ohne Bücher kann man nicht leben.«
Ich nickte heftig, ich liebte auch Onkel Otto.
»Ich habe auch Bücher geschrieben«, setzte er seine Erklärung fort, »und als wir noch in Deutschland lebten, wurden sie dort gedruckt und verkauft. Aber dann kamen die Nazis an die Macht und verbrannten sie.«
Ich war wie vom Donner gerührt. »Aber warum?!«, rief ich. »Bücher sind doch was Tolles!«
»Weil wir Juden sind«, antwortete Onkel Otto. »Deswegen sind wir dann nach England umgezogen und haben englische Namen angenommen.«
Da war es wieder! Die Nazis21 und die Juden. Immer wieder kam das.
»Nach jüdischer Tradition bist du auch Jude«, sagte Onkel Otto lächelnd, »weil deine Mama, deine Oma, deine Uroma alle Jüdinnen waren – aber das ist gleichgültig heute, das zählt heute nicht mehr.«
»Aber warum kommst du dann heute nicht nach Deutschland?«, insistierte ich auf meiner Ausgangsfrage. »Das ist doch alles vorbei?!«
Onkel Otto lächelte traurig. »Ich hab es ja versucht«, sagte er.
Ich sah ihn fragend an.
»Eigentlich wollte ich nie mehr nach Deutschland«, begann er seinen Bericht, »aber Yella hatte so lange mit mir geredet, bis ich mich überzeugen ließ: Ihr alle unsere nächsten Verwandten lebt dort, die Nazizeit ist überwunden, wir müssen nach vorne sehen und nicht immer an die Vergangenheit denken. Es hat keinen Sinn, die Deutschen auf immer und ewig wegen der Hitlerzeit zu verdammen, man muss ihnen eine Chance geben. Ich war zwar skeptisch, denn man hörte auch viel Schlechtes aus Deutschland, aber ich wollte keine Vorurteile haben, Yella hatte recht: Man muss offen für Veränderung sein.«
Er hielt inne und sah zum Fenster hinaus. Ich saß mucksmäuschenstill da.
»Also packten wir unsere Koffer«, fuhr er fort und sah ernst aus, »setzten uns ins Auto, schifften mit der Fähre aufs Festland, fuhren durch Holland und überquerten tatsächlich bei Aachen die deutsche Grenze. Die Sonne schien, die Menschen waren freundlich und wir mussten bei der ersten Tankstelle in Deutschland Benzin nachfüllen. Der Tankwart, ich erinnere mich genau, war noch ein junger Mann, hatte eine blaue Kappe auf dem Kopf, und trug eine weit schlackernde braune Kordhose. Nachdem er gesehen hatte, dass wir eine englische Autonummer hatten, fragte er zunächst, ob wir deutsch sprechen und als ich bejahte, fragte er nach den Benzinpreisen in England. ›Hab’s mir fast gedacht‹, sagte er mit einem bitteren Lachen, nachdem ich geantwortet hatte, ›ist ja nichts im Vergleich zu unseren Preisen!‹ ›Naja‹, entgegnete ich, ›es ist halt immer ein Auf und Ab – das wird sich hier schon auch wieder ändern!‹ ›Nein, nein‹, widersprach er, zog den Zapfhahn aus dem Auto und stieß ihn heftig in die Tanksäule. Ich zog meine Brieftasche aus dem Jackett und fragte, warum. Er sah mich prüfend an – es war deutlich, dass er um einen Beschluss rang –, dann sah er sich sichernd nach allen Seiten um und winkte mich schließlich näher an sich heran. ›Man kann ja heute nicht mehr offen über die Dinge reden‹, begann er noch näher zu mir gebeugt, fast flüsternd, ›aber das weiß doch jedes Kind: Die Preise sind von den Juden diktiert, der jüdischen Weltverschwörung in New York!‹ Dann wich er zurück und stemmte seine Hände in die Hüften: ›Erst haben sie Jesus Christus umgebracht, dann Adolf Hitler und jetzt beherrschen sie die Welt!‹«
Onkel Otto sah mich an, aber ich rief nur ungeduldig: »Und dann?«
»Dann bezahlte ich«, antwortete er, »verzichtete auf das Rückgeld, setzte mich wieder ins Auto zu Yella, erzählte ihr alles und wir fuhren zurück in unser geliebtes England. Hier werden wir für immer bleiben.«
Es dauerte eine Weile, bis sich das Erzählte bei mir setzte, zu verstehen war es eh nicht. Dann begann ich zu weinen ohne zu wissen, warum.
Schließlich nahm ich seine Hand und sagte: »Ich will auch für immer in England bleiben22.«
Der neue Intendant des Ulmer Theaters, Kurt Hübner23, entließ als erste Amtshandlung meine Mutter als Frau seines Vorgängers, dessen bahnbrechende Erneuerungen des Theaters (zum Beispiel das Studiotheater »Podium«, in dem das Publikum um die Bühne herumsaß, Inszenierungen des in den fünfziger Jahren in Westdeutschland verpönten Bert Brechts, oder das Engagement von späteren Theaterrevolutionären wie Peter Zadek24 und Wilfried Minks25) er von nun an auf seine Fahnen schrieb.
Meine Mutter, die junge Witwe mit zwei Kindern, fand eine Stelle beim Bayrischen Fernsehen und musste schweren Herzens ihren Beruf als Schauspielerin aufgeben. Wir zogen um in ein Reihenhäuschen mit Handtuchgarten in Obermenzig am Rande von München, direkt nach dem Ende der Autobahn, wenn man von Ulm kam. Zum Glück gab es auch dort ein schönes Mädchen, sie hieß Mucki und brachte mir bei, dass man auf den umliegenden Wiesen Sauerampfer pflücken konnte, der lecker schmeckte.
Meine neue Schule war zwar ganz in der Nähe, aber sie war düster, geduckt, und es stank nach Linoleum. Der Lehrer war alt, hässlich und streng, der Unterricht machte keinen Spaß. Das Klassenzimmer war riesig, dunkel und wirkte wie ein Kellergewölbe. An der Wand hing ein riesiges Bild des Bundeskanzlers. Er hieß Konrad Adenauer und schaute angsteinflößend ins Zimmer.
Einmal standen wir vor Beginn des Unterrichts vor dem Bild und ein Junge gab damit an, dass sein Vater den Adenauer schon einmal in echt gesehen habe und dass der überhaupt der wichtigste Mann in ganz Deutschland sei. Da musste ich furchtbar lachen, zeigte auf den vorgeschobenen Mund dieses Mannes und sagte: »Aber der sieht doch aus wie ein Affe!« – alle umstehenden Kinder lachten mit.
»Was hast du da gesagt?«, ertönte eine schneidende Stimme hinter mir. Der Lehrer war hereingekommen, ohne dass ich das gemerkt hatte. Er stand mit seiner Aktentasche in der Hand hinter mir und funkelte mich böse an.
Ich zuckte mit den Achseln. Dann zeigte ich auf das Bild: »Der kann ja nichts dafür, dass er so aussieht!«
»Jetzt reicht’s aber«, rief der Lehrer, ging wütend zu seinem auf einem Podest erhöht stehenden Schreibtisch und knallte seine Aktentasche darauf. Dann winkte er mich mit dem Zeigefinger zu sich, während alle anderen Kinder sich setzten, und befahl mir, mich vor der Klasse aufzustellen. Er öffnete die Schublade, holte etwas heraus und hielt es hinter seinem Rücken, während er zu mir herunterkam.
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