»Und dann hams ihn rausgeholt und gefangen?«, fragte ein Junge atemlos.
»Naa, ganz anders«, berichtete der ältere Junge, »des is nämlich so mit den Panzern: Die haben unten einen dicken großen runden Stempel, den sie mit einer hydraulischen Pumpe hochfahren können, damit sie sich auf der Stelle drehen können und ihre Granaten 360 Grad überallhin schießen können. Des wusste natürlich der Hötzl und der lag ja genau drunter.«
Wir alle erschauderten bei dieser Vorstellung.
»Wahrscheinlich hat er schon dreimal das Kreuz geschlagen, weil er gedacht hat ’s ist aus.«
Grauenhaft, einfach furchtbar, so genau hatte ich noch nie gehört, was Krieg eigentlich war.
»Des muss ewig lang so ’gangen sein«, schloss der Junge seinen Bericht, »da is der Hötzl wahrscheinlich schier verrückt worn – aber dann ist der Panzer weiter gfahrn – sonst hätten wir ja unsern Hötzl nicht – und er hat dann nicht mehr aufhörn können zu zittern.«
Nachdenklich zerstreute sich die Gruppe wieder.
Meine Achtung vor Hötzl war durch diese Geschichte gestiegen. Inzwischen hatten wir schon drei Mädchen in der Klasse und Hötzl legte besonderen Wert darauf, dass wir ihnen mit Respekt begegneten – er vermittelte das mit einem Ernst, der nicht die geringste Ahnung eines Widerspruchs aufkommen ließ. Ein Mann, der auf diese Weise gelernt hatte, was es überhaupt bedeutete zu leben, wusste auch, wie man mit dem Leben umzugehen hatte.
Und so war er dazu prädestiniert und verstand es, uns nicht nur die altgriechische Sprache beizubringen, sondern auch die ethischen, politischen und moralischen Werte der griechischen Kultur.
»Der Mensch ist ein ›zoon politicon‹ – ein politisches Tier«, erklärte er eindringlich, leicht vornübergebeugt auf seinem kleinen Podest neben dem Schreibtisch stehend, ein wenig weiß eingestäubt von durch den heftigen Druck abgesplitterten Kreidebröseln. »Herrschaften, eines dürft ihr nie vergessen: Wir sind Tiere, in erster Linie und vor allem Tiere91.« Kurz wartete er ab, ob sich Protest oder Widerspruch regen würde, dann lächelte er: »Das hättet ihr jetzt nicht gedacht, dass ich das sage, was?«
Er nickte in sich hinein, drehte sich wieder um und ging zur Tafel. Zitternd und quietschend schrieb er auf Altgriechisch das Wort
ДЕМОКРАТІА
darauf.
Dann wandte sich wieder uns Schülern zu und brüllte uns regelrecht an: »Wozu brauchen wir denn diesen ganzen hochgestochenen Quatsch, meine Damen und Herren?!« Wieder wartete er ab, ob es eine Reaktion gebe, aber niemand wagte etwas zu sagen. »Weil«, rief er, rot im Gesicht, beide Hände hochhebend und Spucketröpfchen spritzend, »das Tier in uns gebändigt werden muss, weil es Chaos, Mord und Totschlag, Krieg und Vernichtung gäbe, wenn wir uns nicht an diese untersten, niedrigsten, minimalsten Spielregeln halten würden! Fressen und gefressen werden – nichts anderes gäbe es auf dieser Welt ohne die Demokratie!«
Die Klasse war mucksmäuschenstill.
Hötzl musste erstmal Luft holen, ging zurück zu seinem Schreibtisch und setzte sich. »Ja ja«, sagte er und amüsierte sich befriedigt über unsere Betroffenheit. Dann hob er seinen Zeigefinger und schwenkte ihn zitternd: »Vergesst das nie, was ich euch gesagt habe, Herrschaften, denn ihr werdet es bitter nötig haben in eurem zukünftigen Leben.«
Erschöpft schloss er die Augen, zog zitternd umständlich ein Taschentuch aus seiner Hosentasche, wischte sich damit den Schweiß von der Stirn und sagte mit bebender Stimme leise, nachdenklich, fast demütig: »Ihr werdet als Unternehmer, Wissenschaftler oder Politiker dieses Land in die Zukunft führen. Ihr seid die zukünftige Elite dieses Landes!« Dann überkreuzte er seine Arme, legte sie auf den Schreibtisch, beugte sich weit vor und sagte so zitternd wie eindringlich: »Damit liegt eine große, ja, ungeheure Verantwortung auf euren jungen Schultern, meine sehr verehrten Damen und Herren!«
Als könnten die in den Sommerhimmel gezeichneten vertrauten Wege genauso gut ins Gefängnis wie in vertrauten Schlaf führen. 92
Ich entdeckte in mir süße Unterdrücker-Träume. Zumindest merkte ich, dass ich einzig und allein so lange auf Seiten der Schuldigen, der Angeklagten stand, als ihr Vergehen mir nicht zum Nachteil gereichte. Ihre Schuld verlieh mir Beredsamkeit, weil nicht ich ihr Opfer war.
Fand ich mich selbst bedroht, so wurde ich nicht nur meinerseits zum Richter, sondern darüber hinaus zum jähzornigen Gebieter, der ohne Ansehen der Gesetze danach verlangte, den Delinquenten niederzuschlagen und in die Knie zu zwingen. Nach solch einer Feststellung, Verehrtester, ist es recht schwierig, weiterhin ernsthaft zu glauben, man sei zur Gerechtigkeit berufen. 93
Doch von dem Augenblick an, da das Christentum am Ende seines Triumphs die Kritik der Vernunft wurde, wurde in gleichem Maß, wie die Göttlichkeit Christi geleugnet wurde, der Schmerz aufs Neue zum Los der Menschen. Der betrogene Christus ist nur ein Unschuldiger mehr, den die Vertreter des Gottes Abrahams in öffentlicher Schaustellung hingerichtet haben. Der Abgrund, der den Herrn vom Sklaven trennt, öffnet sich von Neuem, und die Revolte brüllt wieder vor dem versteinerten Gesicht eines eifersüchtigen Gottes. 94
Ich wusste nicht mehr, wie mir war.
Gott war eine Lüge.
Die Religion war Betrug.
Das Christentum war Verrat an den Ideen Christi.
Ich konnte mir nicht mehr vorstellen, dass ich vor Kurzem noch Papst hatte werden wollen, um »die Welt zu retten«.
Die heiligen Hallen Roms, die vorher so beschützend und Geborgenheit vermittelnd auf mich gewirkt hatten, waren nun bedrohlich, klein machend, Ablenkungsmanöver. Wie konnte mein angebeteter Vater, der mich so sanft und Vertrauen erweckend in den Vatikan eingeführt hatte, das nicht erkennen? Meine Großmutter, die auf Knien nach Lourdes gekrochen war, weil sie glaubte, dass Gott dann ihre Krebskrankheit heilen werde – natürlich war das alles nur Blendung.
Tagelang konnte ich mit niemandem über das reden, was diese Lektüre in meinem Denken ausgelöst hatte.
Ich verstand es selbst nicht.
Es gab nichts mehr, an dem ich mich festhalten konnte.
Landgeräusche stiegen zu mir herauf. Gerüche nach Nacht, Erde und Salz erfrischten meine Schläfen. Der wunderbare Frieden dieses schlafenden Sommers drang in mich wie eine Flut. In dem Moment und an der Grenze der Nacht haben Sirenen geheult. Sie kündigten Abreisen in eine Welt an, die mir jetzt für immer gleichgültig war. 95
Ich empfand Abscheu davor, wieder in die Kirche zu gehen.96
Ich fiel in ein tiefes schwarzes, bodenloses Loch.
Aber dass alles sinnlos sein sollte, war ich nicht bereit hinzunehmen.
Mit einem Mitschüler, Dominik, dem Sohn des Schauspielers Robert Graf97, den ich bewunderte und den Dominik, ähnlich wie ich meinen Vater, früh verloren hatte, gründete ich mit drei weiteren eine Theatergruppe. Regelmäßig gingen wir ins Residenztheater oder in die Münchner Kammerspiele. Wir bereiteten uns auf die Stücke vor, indem wir sie zusammen lasen und darüber sprachen – hinterher gingen wir noch etwas trinken und machten Kritik.
Nach einer Vorstellung, in der die Schauspielerin Kathrin Ackermann98 mitgespielt hatte, die eine Nachbarin von uns war und oft meine Eltern besuchte, gingen wir zum Bühneneingang und baten darum, in die Garderoben gelassen zu werden, um Autogramme zu bekommen. Dank Dominik als Sohn von Robert Graf gelang uns das spielend und die schöne Kathrin Ackermann war überrascht, mich dort zu sehen. Ich lobte ihr Spiel über den Daumen und schmeichelte ihr in den höchsten Tönen – sie lächelte amüsiert und merkte genau, dass ich in sie verknallt war.
Aber die ernüchternde Realität hinter den Kulissen, die Schauspieler ohne Kostüm und Maske, die abgewetzten engen Gänge, die muffigen Garderoben, die wie Zellen wirkten, das zynische, hochnäsige Gerede der aufgedreht müden Akteure, das Sein hinter dem Schein bestätigte mich einmal mehr, dass dies nicht meine Welt war.
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