Wilhelm richtete sich in dem Haus ein Fotolabor ein, und wenn seine Pflichten als Familienvater und Lehrer es zuließen, entwickelte er dort Porträts von seiner Frau und den Kindern, aber auch Bilder vom stark wachsenden Berlin. Den Abriss mancher Altberliner Idylle und das Werden vieler technischer Bauten, die nach der Eingemeindung der Randstädte notwendig waren, hielt er in Bildern fest.
Edda zeigte Verständnis für das Steckenpferd ihres Mannes, ja sie war selber an allem interessiert, was das Wachsen der neuen Stadt Groß-Berlin ausmachte. Seit sie die Interessen ihres Mannes näher kannte, fand sie ihn mehr und mehr liebenswert. Sie konnte ja nicht ahnen, dass gerade sein Hobby ihm den frühen Tod durch den Henker bringen sowie ihr Leben und das ihrer Kinder völlig verändern sollte.
Sophie gestand Philipp, dass sie Schwierigkeiten in Chemie und Physik habe und bat ihn um Nachhilfe. Philipp musste an die spöttischen Bemerkungen von Christian denken und lehnte ab.
»Ich habe selber Schwierigkeiten; in Geschichte bin ich besonders schlecht.«
»Aber da kann ich doch helfen. Helfen wir uns zusammen.«
»Gegenseitig, sagt man, nicht zusammen«, verbesserte er. »Aber du verstehst mich falsch, nicht das Lernen fällt mir schwer, nur manchmal das Glauben.«
»Wie, das Glauben?«, fragte sie erstaunt. »Du musst nicht glauben, Geschichte ist doch eine Wissenschaft. Stalin hat schon 1938 in seiner Arbeit über den Historischen Materialismus geschrieben, dass es in der Gesellschaft sich verhält wie mit den Gesetzen in der Natur.«
»Schön, wenn es so einfach wäre!«
»Aber es ist so einfach! Stalin schreibt von dem Beispiel mit dem Wasser, das bei Temperaturerhöhung, wenn es kocht, sich plötzlich in Dampf verwandelt. Quantität schlägt um in eine neue Qualität. Und so ist es genau in der Gesellschaft. Im Kapitalismus wird das Proletariat immer stärker, und mit der Revolution kommt eine neue Gesellschaft, kommt der Sozialismus.«
»Ich glaube, dein Genosse Stalin hat genau wie du Schwierigkeiten in Physik. Das Beispiel ist so was von falsch!«
»Dann erklär mir, warum!«
So kam es, dass Philipp ihr doch noch Nachhilfe gab. Sophie meinte, dass er zu ihr aufs Zimmer kommen könne. Sie wohne bei einem älteren Ehepaar, Kommunisten und Bekannte ihrer Mutter aus der Zeit der illegalen Arbeit, die erlaubten das.
»Komm am Sonntag«, sagte sie. »Ich habe noch etwas Mehl und Salz, hat mir die Mutti geschenkt. Das Mehl röste ich, und daraus mache ich uns eine Suppe.«
Eine Suppe am Sonntag, das war Philipp einen Besuch wert. Er konnte schlecht haushalten und hatte sich angewöhnt, am Beginn einer Dekade die Lebensmittelmarken immer gleich auszugeben. Das bedeutete, dass er von der letzten Suppenausgabe in der VA am Freitag bis zur nächsten am Montag von Leitungswasser leben musste.
Am zweiten Sonntag gingen sie nach der Suppe zusammen ins Bett. Sophie lag auf dem Rücken und ließ es geschehen. Sie lächelte Philipp freundlich an, zeigte aber sonst keine Gefühle. Nach einiger Zeit unterbrach sie die Stille.
»Ich habe jetzt genug, wenn du aber willst, kannst du ruhig noch weitermachen.«
Philipp stieg ab und setzte auch den Nachhilfeunterricht nicht fort.
Der Winter wurde kalt. Um abends einschlafen zu können, wickelte Philipp sich das seitenstarke »Neue Deutschland« um die Füße. Gegen Mitternacht aber wurde er regelmäßig wach. Die Geräusche der tieffliegenden Luftbrückenmaschinen, die in Minutenabständen zur Landung in Tempelhof ansetzten, und die Wärme des Ofens unterbrachen seinen Schlaf. Er musste lernen, dass der große Kachelofen nach dem Anheizen Stunden zum Sammeln der Wärme brauchte, um diese dann viel später abzustrahlen. Die Wirtin bot sich an, gegen einen Mietaufpreis den Ofen schon vorher anzuheizen. Das aber konnte Philipp sich nicht leisten. Er musste mit dem Geld, aber auch mit seiner knappen Brikettzuteilung haushalten. Der Erfolg war am Abend ein kaltes und spät in der Nacht ein überheiztes Zimmer. Die Zeitung und das Federbett, zur Einschlafzeit sehr nötig, waren ab Mitternacht überflüssig.
Christian erzählte, dass er seit einigen Tagen seine Schularbeiten im Haus der Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion machte, und riet Philipp, den Ofen kalt zu lassen, die Briketts für das Wochenende zu sparen und auch dorthin zu kommen. Dieses Haus, nahe der Uni zwischen der Neuen Wache und dem Kastanienwäldchen gelegen, wurde von den Berlinern weiterhin Singakademie genannt. Dort gab es einen warmen Raum, in dem man sich aufhalten durfte.
Anfangs hatte Christian geglaubt, seine Schularbeiten während der Fahrt von und nach Potsdam machen zu können. Aber durch die vielen Menschen in der S-Bahn fand er nicht immer einen Sitzplatz und dann auch nicht die notwendige Konzentration. Zu Hause wollte er sich so wenig wie möglich aufhalten, um dem neuen Partner der Mutter aus dem Wege zu gehen. Wenn er von ihm sprach, redete er nur von dem Dicken und schimpfte auf ihn. Die Mutter müsse diesen Eindringling bedienen, als sei sie seine Angestellte. Schon am Morgen vor dem Aufstehen brächte sie ihm eine Flasche Wein und ein Glas ans Bett, schenke ihm so oft ein, bis er die Flasche geleert habe. Erst dann stände er auf, torkele mit glasigen Augen durch die Wohnung und nörgele an allem und jedem herum. Sicher, der Dicke habe selber den Wein bei den Russen geklaut, er sei also sein Eigentum, und er könne damit machen, was er wolle. Aber er lebe nun mal in dieser Familie, und was könne man alles eintauschen gegen den vielen Wein. Die Mutter schwiege zu alledem, bediene die Großmutter und den Dicken und ginge ihren Tauschgeschäften nach mit dem, was er sonst noch mitbrächte.
Maria Koscheks Vater, Oberst Albert von Sasse, war Berufssoldat und aus einer Familie, in welcher der Offiziersberuf Tradition hatte. Ihre Mutter, Edelgard von Kleist, stammte wie letztlich alle von Kleists aus einem pommerschen Adelsgeschlecht, das sich bis auf das 13. Jahrhundert zurückverfolgen ließ. Ihre direkten Vorfahren waren auch Soldaten. Stolz war sie aber auf einen früheren Vorfahren, Franz Alexander von Kleist, der im 18. Jahrhundert gelebt hat. Auch er war erst im Militärdienst, trat aber bald aus und brachte es als eine Art Modedichter in seiner Zeit zu einiger Berühmtheit. Edelgard besaß sein wohl bekanntestes Buch »Das Glück der Ehe«, an dem sie bis zum Hungertode ihres Mannes nach dem verlorenen Krieg ihren Ehealltag zu messen pflegte.
Die von Sasses hatten zwei Töchter und zum Kummer des Vaters keinen Sohn. Cäcilie, die ältere Tochter, brach früh die Schule ab, lernte einen Monteur kennen, der vorübergehend beim Brückenbau in Potsdam beschäftigt war, folgte ihm nach Essen und heiratete ihn gegen den Willen ihrer Eltern. Die Ehe war glücklich; sie bekamen vier Kinder. Cäcilies Mann war fleißig und brachte es in der Firma Krupp bis zum Meister. Oberst von Sasse aber sagte sich von seiner ältesten Tochter los und verbot seiner Frau, seiner zweiten Tochter Maria und auch dem Hausmädchen Trude, an der Cäcilie sehr hing, den Kontakt mit diesen Proleten.
Maria war in ihrer Jugend aufgeschlossen und lebenslustig. Schon als junges Mädchen war sie etwas füllig. Ihr zu einem Knoten gebundenes schwarzes Haar, die lebhaften Augen, ihr herausfordernder Blick und ihre kecken Bewegungen hatten etwas Provozierendes. Sie schaffte die Mädchenbildungsanstalt nur dank der Intervention des Vaters und besuchte anschließend die Hauswirtschaftsschule. Trotz mancher Schwierigkeiten in der Erziehung war diese Tochter doch der Liebling ihres Vaters und − wie er zu sagen pflegte − ersetzte ihm den fehlenden Sohn. Als der Oberst bemerkte, dass seine Tochter sich auffallend stark für das andere Geschlecht zu interessieren begann, nahmen er und seine Frau sie zu den Offiziersbällen mit. Er wollte nichts dem Zufall überlassen. Maria lernte auch eine stattliche Anzahl junger Reichswehroffiziere kennen, und weil sie sich leicht hingab, pflegte sie auch bald zu vielen intime Beziehungen. Immer aber, wenn die Liebhaber in Uniform merkten, dass die Eltern ihres Liebchens sie zu binden trachteten, suchten sie das Weite. So brachten die Ungeschicklichkeit der Eltern und die aufgeschlossene Art Marias ihr in Offizierskreisen bald den Ruf ein, sie sei eine Festung, die zu erobern wenig Ruhm bedeutete.
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