1 ...8 9 10 12 13 14 ...34 »Warum fragst du?«
»Weil doch die Christen ihre Feinde lieben sollen.«
»Blödsinn! Wieso sollte ich meine Feinde lieben?«
»Warum hast du dich dann gestern so für diese Faschisten eingesetzt?«
»Ich habe mich nicht für Faschisten eingesetzt. Ich bin nur dagegen, dass applaudiert wird, wenn Menschen getötet werden, besonders, wenn man daran beteiligt war, anderen Menschen das Töten beizubringen. Und am Christentum bewundere ich die Einfachheit des fünften Gebotes: Du sollst nicht töten. Punktum! Bin ich darum Christ? Die Zehn Gebote sind das Alte Testament. Vielleicht bin ich Jude? Oder sollte ich sagen Judist?«
»Jetzt weiß ich, du bist Pazifist.«
»Genau das meine ich. Du musst wohl alle Menschen einteilen: Faschisten, Marxisten, Christen, Pazifisten, das sind zu viele ›Isten‹.«
»Aber die Menschen gehören Klassen an und handeln nach der Ideologie ihrer Klasse. Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen, sagen Marx und Engels.«
»Das Leben ist ein ewiger Kampf, sagt Hitler«, entgegnete Philipp. »Kennst du übrigens das, was Lenin einmal in einem Gespräch dazu gesagt hat? Es ging um das Hören guter Musik. Lenin hat gesagt, allzu oft könne er solche Musik nicht hören, weil man danach den Menschen die Köpfe streicheln möchte. Man dürfe ihnen aber nicht die Köpfe streicheln, sonst werde einem die Hand abgebissen. Man müsse auf die Köpfe schlagen. Was muss ein Mann, der so etwas sagte, für ein Menschenbild gehabt haben!«
»Sein älterer Bruder wurde im Zarenreich hingerichtet. Da war Lenin erst siebzehn«, entgegnete Sophie.
Sie näherten sich der Spreebrücke. Plötzlich sahen sie, wie ein Mensch, im Wasser liegend, unter der Brücke hervorkam.
»Da, ein Toter, ein Toter im Wasser!«, rief Sophie.
Ein Mann, der ihnen auf der Brücke entgegenkam, nahm eine am Geländer befestigte Stange mit einem Haken an der Spitze, lief die Böschung hinunter und angelte die Leiche, indem er mit dem Haken der Stange die Kleidung fasste.
»Polizei, einer muss die Polizei holen!«, rief der Mann.
Philipp rannte zur nächsten Kreuzung und kam mit einem Polizisten zurück. Inzwischen standen einige Zuschauer auf der Brücke.
»Was ist es denn?«, fragte der Polizist.
Der Mann zog an der Stange und hob kurz die Leiche mit dem Oberkörper aus dem Wasser. Es war ein Mann um die dreißig; er hatte noch eine Brille auf der Nase und schien über den Brillenrand hinweg die auf der Böschung Stehenden anzublinzeln.
»Komisch«, sagte der Polizist, »in letzter Zeit sind es fast nur junge Männer, die in die Spree gehen.«
»Lass uns weitergehen«, drängte Sophie.
Der Unterricht hatte längst begonnen. In der ersten Stunde hatten sie Geographie. Köhler bekam immer die erste Stunde, so konnten die anderen Dozenten ausschlafen, die Schüler während dieser Stunde allmählich eintrudeln, um zur folgenden Stunde pünktlich zu sein.
Als die beiden die Tür öffneten, stand Lehrer Köhler, auf seinem Zeigestock gestützt, vor einer Karte der Sowjetunion. Durch seine Brille mit runden, dicken Brillengläsern sah er sie streng an, nahm wie bei allen Störungen durch Zuspätkommende den Zeigestock wie eine Lanze unter den rechten Arm, zielte auf die Störer, watschelte mit seinen Plattfüßen auf sie zu und blieb kurz vor ihnen stehen.
»Bumm! Erschossen! Hinsetzen!«
Sie setzten sich.
»Na«, fragte Christian, »hat der Lichtweiß dir gestern noch den Marsch geblasen? Warum musstest du dich auch einmischen!«
»Ich verstehe dich nicht, du hast doch auch nicht geklatscht.«
»Ja, aber nur, weil es mir egal war.«
Philipps Vater, Paul Siebert, sollte und wollte als Junge nicht Bergarbeiter werden. Es war der Plan seiner Eltern, dass er als Ältester und einziger Sohn später den Hof übernehmen sollte. Mittelgroß und eher schwächlich ausschauend, mit hellblondem Haar und weichen Gesichtszügen, konnte man in ihm weder den künftigen Landwirt noch den Bergarbeiter erkennen.
Philipps Großvater, Ferdinand Siebert, war als junger Mann mit seiner Frau Guste aus Ostpreußen in den Westen gekommen. Dort in Ostpreußen gehörten beide zu einem gräflichen Gesinde. Nachdem sie Gefallen aneinander gefunden hatten und den Herrn Grafen um Erlaubnis baten, heiraten zu dürfen, stimmte der nicht nur zu, sondern überließ ihnen auch noch eine kleine Kate und ein wenig Land. Es wurde vereinbart, dass sie als Tagelöhner weiter auf dem gräflichen Gut arbeiten und so die Pacht für Kate und Land aufbringen sollten.
Bald aber bekam Guste ihr erstes Kind, Paul, und konnte neben der Hausarbeit und der Arbeit auf dem eigenen Feld nur noch selten auf den gräflichen Feldern mitarbeiten. Um die Pacht aufbringen und mit seiner Familie überleben zu können, kaufte Ferdinand Siebert von dem wenigen Ersparten einige Schafe und versuchte sich als Schafzüchter. Er war auch erfolgreich. Aber schon im ersten strengen Winter erkrankten viele der Schafe und verendeten. Ferdinand verkaufte die restlichen Tiere, und die Sieberts zogen in den Westen.
Ferdinand war ein Mann, der schon in jungen Jahren schütteres Blondhaar hatte. Mit seiner untersetzten Gestalt, seinen buschigen Augenbrauen, seinem leichten Bauchansatz und dem schweren Gang wirkte er leicht behäbig.
Guste war klein, hatte ein schmales, herbes Gesicht mit einer geraden, großen Nase. Sie ging mit eingezogenen Schultern leicht nach vorn gebeugt. Auffallend war ihre stark nasale Sprechweise.
Hier im Westen arbeitete Ferdinand zuerst im Bergbau. Guste nahm eine Putzstelle an und bemühte sich, neben ihrer Arbeit als Hausfrau und Mutter so viel wie möglich mitzuverdienen. Sie lebten sehr sparsam, und obwohl Guste in dieser Zeit ihr zweites Kind gebar, das Mädchen Johanna, versuchte sie, wann immer sie ein wenig Zeit erübrigen konnte, putzen zu gehen und so den Betrag auf dem Sparbuch zu vergrößern.
Nach zwei Jahren bekamen sie einen Kredit von der Bank und kauften sich einen preiswerten, kleinen Bauernhof. Ferdinand wurde selbstständiger Landwirt. Dieser Hof, mit einem großen Obstgarten am Rande des Ruhrgebiets und östlich einer Zeche und einer neuen Kokerei mit einer Teerverwertung gelegen, konnte nur überleben durch zugepachtetes Land. Die Sieberts kauften sich eine Kuh und ein Pferd. Schon nach der ersten Ernte leisteten sie sich weitere Kühe und dazu einige Schweine, denn Ferdinand und Guste waren fleißig und erfolgreich. Guste bekam ihr drittes Kind, wieder ein Mädchen. Sie nannten es Emma. Es war eine schwere Geburt, so dass Guste nach der Geburt kränkelte und eine ganze Weile für die Feldarbeit ausfiel. Die Ernten aber waren gut. Die Sieberts konnten ihre Kreditraten pünktlich bezahlen und hatten auch noch etwas über für das Sparbuch.
Ferdinand merkte es zuerst am Obstgarten. Die Obsternte wurde weniger, einige Bäume gingen ein. Von Jahr zu Jahr wuchsen das Getreide und die Rüben schlechter, so dass Ferdinand das Ersparte anbrechen und zusätzlich teuren künstlichen Dünger streuen musste. Es half nicht viel, die Ernten wurden immer weniger. Als er dazu noch für sein Getreide von der Genossenschaft nur einen geringen Preis bekam und darüber klagte, sagte ihm der Geschäftsführer vorwurfsvoll: »Sei froh, dass du es überhaupt noch los wirst. Dein Getreide mit dem vielen Pech und Schwefel darin ist ja das reinste Giftzeug. Wie konntest du auch einen Hof kaufen so nahe an der Kokerei!«
Im Jahr darauf ließ die Bank den Hof und das Vieh versteigern. Die Zeche erwarb das Land und die Gebäude; sie brauchte Bauland für eine neue Bergarbeitersiedlung. Die Gebäude wurden abgerissen, die Bäume wurden gefällt, eine abgelegene Scheune blieb stehen. Die Zechenverwaltung erlaubte, dass Ferdinand die Scheune zu einem geringen Zins mietete und ausbaute, das umgebende Wiesenstück pachtete und mit seiner Frau und den drei Kindern in der Scheune wohnte.
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