Man machte ihm das Angebot, mit Pferd und Wagen die Belieferung der Bergarbeiter mit Deputatkohle zu übernehmen. Einen Teil der Scheune durfte er dafür als Pferdestall nutzen. Ferdinand sagte zu, denn er wollte gerne an der frischen Luft sein und für kein Geld der Welt wieder in der Grube arbeiten. So ging er in seiner grünen Lodenjoppe neben seinem das Fuhrwerk ziehenden Rheinischen Kaltblut zur Zeche, um von dort die Kohlen zu den Bergarbeitersiedlungen zu fahren. Auf dem Kopf trug er eine Mütze mit schwarzem Lackschirm, seine Hosenbeine waren mit Ledergamaschen umwickelt.
Paul, der diese Beschäftigung seines Vaters interessanter fand als die schwere Feldarbeit, beeilte sich nach dem Schulbesuch mit den Hausaufgaben, um an den Nachmittagen den Vater begleiten zu können. Das brachte ihm neben der Freude, das Pferd führen zu dürfen, manches Mal auch Süßigkeiten oder gar ein Trinkgeld ein, wenn sie eine Fuhre Kohlen vor einem der Siedlungshäuser abgekippt hatten. Gerne hörte Paul auch zu, wenn der Vater mit den Kumpeln, wie er die Bergarbeiter nannte, ein Schwätzchen hielt, war es über das Wetter, über die Arbeit in der Grube oder über den Kaiser in Berlin.
An kalten Tagen hatte Ferdinand immer eine Schoppenflasche mit Schnaps dabei, und an besonders kalten Tagen durfte Paul auch schon mal einen Schluck davon nehmen. Wenn aber nach der Heimkehr Guste den Schnaps bei Paul roch, schimpfte sie mit ihrem Mann.
»Was soll nur aus dem Jungen werden, wenn er schon mit zehn Jahren lernt, wie man Schnaps trinkt. Du machst aus ihm noch einen Säufer!«
Ferdinand brummelte dann nur: »Nu, nu, ein Schluck wird schon nicht schaden«, strich sich über den Kaiser-Wilhelm-Bart, aß ruhig seine Suppe weiter und langte zwischendurch mit seinem Löffel in die in der Mitte des Tisches stehende Schüssel mit Bratkartoffeln.
Es ging ihnen gut; sie hatten nun ein regelmäßiges Einkommen und keine Schulden mehr. Ferdinand aber plante weiter. Er kaufte einen zweiten Pferdewagen, mit dem man auch andere Güter transportieren konnte, besorgte sich einen Gewerbeschein, malte auf einer Holztafel mit großen Buchstaben »Fuhrgeschäft von Ferdinand Siebert, Fuhren aller Art« und brachte das Schild an der Außentür der Scheune an.
Auf ihren ehemaligen Feldern war inzwischen eine Siedlung entstanden, Neue Kolonie genannt, in die viele Bergarbeiter aus Schlesien und aus anderen Teilen Deutschlands einzogen. Dort gab es jetzt öfter etwas zu transportieren, was Ferdinand einen willkommenen Nebenverdienst brachte. Paul hatte nicht viel im Sinn mit dieser Kolonie. Weil es meist junge Familien waren, die dort wohnten, gab es nur wenige Kinder in seinem Alter. Diese gingen auch noch in die nahe der Zeche gelegene katholische Schule, während Paul zusammen mit den Kindern der meisten Geschäftsleute und denen der Handwerksbetriebe in die evangelische Schule nahe dem Ortszentrum ging.
Im Spätherbst bekam Guste ihr viertes Kind, wieder ein Mädchen. Mutter und Kind kränkelten. Der Arzt stellte fest: Das Kind litt an Blutarmut, die Mutter hatte ein Magenleiden. Guste konnte ihr Kind nicht stillen; sie hatte keine Milch. Ferdinand baute einen kleinen Verschlag neben dem Pferdestall und kaufte ein Schaf.
»Schafsmilch ist gut gegen Blutarmut und gegen Magenleiden«, sagte er. Aber es half nichts. Die Jüngste wurde gerade mal ein halbes Jahr alt und starb. Guste kränkelte immer mehr.
Als Paul elf Jahre alt war, begann der Krieg. Aus dem Album, das sein Vater schon als Junge mit gesammelten Zigarettenbildern über den Krieg 1870/71 angefertigt hatte, wusste er, dass Krieg bunte Fahnen, schöne Uniformen, Paraden und Siegesfeiern bedeutete, und er freute sich, jetzt selber einen solchen Krieg miterleben zu dürfen. In der Schule lernten die Kinder das Lied »Fest steht die Wacht am Rhein« und packten Päckchen für die ausrückenden Soldaten.
In der Neuen Kolonie gab es ein Straßenfest mit den jungen Bergarbeitern, die sich als Freiwillige gemeldet hatten. Der Obersteiger überreichte im Namen der Zechenleitung jedem der jungen Helden einen Umschlag mit einem zusätzlichen Wochenlohn und hielt eine Rede, in der er verkündete, die Heimat erwarte, dass kein Franzose über den Rhein komme, in sechs Wochen werde alles vorbei sein, und allen Familien der ausrückenden Soldaten sei für die Dauer des Krieges die Wohnungsmiete erlassen. Die Menschen jubelten und schwenkten Fähnchen. Die mit Girlanden geschmückten Häuser, die Fähnchen schwenkenden Menschen und die unter Musikklängen marschierenden jungen Bergarbeiter, das entsprach ganz Pauls Vorstellung von einem Krieg. Ab jetzt ging er gerne in die Kolonie.
Zu Hause saßen Johanna und die kleine Emma und versuchten eifrig, die in der Schule unter Anleitung der Handarbeitslehrerin begonnenen Wollsocken für die Soldaten an der Front zu einem guten Ende zu bringen. Guste musste energisch werden, um ihre Töchter von den Stricksocken weg und zum Einkauf im Konsumverein zu bewegen. Sie ließ in größeren Mengen Mehl und Graupen besorgen, um einen Vorrat anzulegen. Einige Tage später waren die Lebensmittelpreise gestiegen. Die Geschäfte nahmen nur noch Hartgeld und kein Papiergeld mehr entgegen, so dass die Behörden energisch gegen diese Art des Geldverkehrs einschreiten mussten.
Auf dem Wege zur Schule kam Paul an einem Schaukasten der Hamborner Nachrichen vorbei. Dort standen jetzt schon frühmorgens die Menschen, lasen die Erfolgsmeldungen von der Front und stimmten Hochrufe auf den Kaiser und das Vaterland an. Paul stimmte mit ein, bis ein Invalide ihm Prügel androhte, wenn er, der Rotzlöffel, noch einmal den Kaiser hochleben lassen sollte.
Ferdinand kam mit der Nachricht heim, dass ab sofort die Mengen an Deputatkohlen für die Bergarbeiter und damit auch die Anzahl der Fuhren auf die Hälfte reduziert würden. Während er noch überlegte, wie er trotz weniger werdender Fuhren seine Familie ernähren könne, brachte der Briefträger ihm einen behördlichen Brief. Die Kaiserliche Ersatzinspektion teilte mit, dass der Fuhrmann Ferdinand Siebert zum 15. September 1914 sein Pferd in einem guten Zustand an die Armee abzuliefern habe. Der Gewerbeschein sei für die Dauer des Krieges eingezogen. Über Ferdinands Weiterbeschäftigung werde die Zechenverwaltung entscheiden.
Ferdinand war empört. Wer sollte jetzt die Kohlen ausfahren? Er nahm das Schreiben und ging zum Vorsteher des Lohnbüros. Der beruhigte ihn: Für die Kohlelieferung hätten die Bergarbeiter ab sofort selber zu sorgen. Viele hätten ja Karren, und die anderen könnten sich diese ausleihen. Ferdinand könne aber, wie schon vor Jahren, wieder als Bergmann arbeiten. Mit seinen 41 Jahren sei er ja noch ein junger Mann, der sicher gutes Geld unter Tage verdienen werde, und außerdem sei es ja nur für die kurze Zeit bis zum Sieg über die Franzosen. Und − der Bürovorsteher schaute ihn über die Brillengläser streng an − er könne weiter in der Werkswohnung wohnen bleiben.
»Ich wohne in einer Scheune, Herr Vorsteher«, wagte Ferdinand zu entgegnen und drehte seine Schirmmütze in den Händen.
»Aber doch von der Zeche!? Na siehst du!«
Ferdinand wurde wieder ein Kumpel. Er träumte von der frischen Luft, wenn er in der feuchten Schwüle unter der Erde die Kohlen in die Wagen schaufelte, von den weiten, von der Sonne beschienenen ostpreußischen Feldern, und er wartete auf das schnelle Ende des Krieges. Wenn er nach der Schicht die Siegesmeldungen in der Zeitung las, war er voller Zuversicht. Schon bald aber wurden die Meldungen von der Front immer einsilbiger. Brachte die Zeitung in den ersten Kriegswochen noch täglich lange und ausführliche Meldungen vom siegreichen Vormarsch, so nahmen die Listen der Gefallenen unter der Überschrift »Deutsche Helden« bald einen größeren Platz ein und verdrängten endlich die Siegesmeldungen ganz. Ein wenig später mussten die in den Siedlungen wohnenden Familien der Helden auch wieder Miete zahlen.
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