Edda studierte gerne, wenngleich sie mehr und mehr das Empfinden bekam, Eindringling in einem den Männern vorbehaltenen, ja ihnen gehörenden Lebensbereich zu sein. Als Ausgleich versuchte sie, sich einer der studentischen Vereinigungen anzuschließen. In den konservativen Verbindungen konnte sie als Frau nicht Mitglied werden, so blieb ihr nur die Freie Studentenschaft, die den Sozialdemokraten nahestand. Die auf den Versammlungen und Diskussionsabenden behandelten Themen waren ihr zuerst fremd, eröffneten ihr jedoch bald eine ganz neue Art zu denken. Sie versäumte keinen der Abende.
Nach einiger Zeit trat Edda der SPD bei und berichtete das auch den Eltern. Vater Franke tobte und wollte ihr den Wechsel sperren, ließ sich aber durch seine Frau davon überzeugen, dass das Ganze sicher nur eine jugendliche Dummheit und bald vorbei sei.
Eddas Briefe nach Hause wurden weniger; ihre Mutter musste immer öfter ein Lebenszeichen von ihrer Tochter anmahnen. Auch kam sie in den Semesterferien bald nur noch kurz und dann auch seltener heim. Einmal, Edda studierte nun schon das dritte Jahr in Jena, kam ein Brief, in dem sie ankündigte, dass sie in Kürze kommen und einen jungen Mann mitbringen werde. Sie habe einen Institutsassistenten kennen gelernt, wolle ihn den Eltern vorstellen und deren Segen zu ihrer Verlobung erbitten. Dr. Jonas Blumenthal, so der Name des Assistenten, sei ein fleißiger junger Mann, dem man eine große Karriere an der Universität voraussagte. Karl Franke war außer sich. Das hatte ihm gerade noch gefehlt, ein Jude in der Familie.
»Mir genügen schon die Juden in der Firma, da muss es nicht auch noch ein jüdischer Schwiegersohn sein. Das hast du nun von den jugendlichen Dummheiten, jetzt wirst du bald Bastarde als Enkel haben«, schimpfte er mit seiner Frau.
Er ahnte aber, dass mit Härte bei seiner Tochter nichts zu erreichen sein würde, beriet sich mit seiner Frau und stimmte zu, sie einen Brief nach Jena schreiben zu lassen.
Mein liebes Kind, schrieb Luise Franke, Vati und ich, wir freuen uns sehr auf Dein baldiges Kommen. Matilda hat gleich angefangen, Dein Zimmer herzurichten. »Ich werde ihr was Ordentliches kochen, Frau Direktor, das Mädelchen war beim letzten Besuch ja so dünn«, hat sie gesagt, die Gute. An den Gedanken, dass Du Dich verloben wirst, müssen wir uns erst gewöhnen. Für uns bist Du immer noch unsere Kleine. Ich kann es nicht glauben, dass Du schon zweiundzwanzig Jahre alt bist, vielleicht, weil ich immer noch Deine älteren Brüder sehe, die mit siebzehn und achtzehn Jahren sterben mussten. Und was ist aus unserem Vaterland geworden, für das sie gefallen sind! Jetzt bist Du unser ganzer Lebensinhalt, und wir machen uns natürlich Sorgen um Deine Zukunft. Glaube mir, Schatz, wir wollen nur Dein Glück. Muss es aber gleich ein Jude sein? Vati und ich haben nichts gegen Juden, Gott bewahre! Wir kennen ja selber einige, die sind ganz nett. Aber wir leben nun mal in einem christlichen Land, und wir sind eine christliche Familie. Ich möchte doch mal dabei sein, wenn meine Enkelkinder getauft werden und vielleicht − wenn ich es denn noch erlebe − wie sie zur Konfirmation gehen. Du willst doch sicher nicht, dass ich noch jiddische Lieder lernen muss, um die Kinder, an ihren Bettchen sitzend, in den Schlaf zu singen. Gell, Du überlegst es Dir nochmal? Vati lässt Dir ausrichten, dass er Dir unser Jugendstilhaus in Dahlem schenken will, wenn Du einen christlichen Ehemann haben wirst und dort wohnen möchtest. Du liebst das Haus doch so sehr. Er sagt, dass es kein Problem sein wird, die jetzigen Mieter rauszuklagen. Die Neueinrichtung übernimmt Vati auch. Schatz, ich bete, dass Du unsere große, vernünftige Tochter sein wirst.
Viele zärtliche Küsse von Mutti und von Vati
Als Edda diesen Brief erhielt, hatte Jonas Blumenthal sich schon wieder von ihr getrennt und war zu seiner früheren Freundin zurückgekehrt. Heimgesucht von den unterschiedlichsten Gefühlen, war Edda eine Zeit lang wie gelähmt. Dazu wurden die Schwierigkeiten für sie als Frau im Studium immer größer, so dass ihr die Freude an der Biologie verging. Gefangen in diesem Seelentief, traf sie Wilhelm Dahlhaus, einen Pädagogikstudenten, auch Mitglied der Freien Studentenschaft und der SPD, der ihr seit langem den Hof zu machen versuchte. Er war groß, eher schlank, hatte leicht krauses Haar und wirkte mit seinem schmalen Schädel und der randlosen Brille schon in jungen Jahren wie ein Gelehrter. Mit seinen langen Armen und Beinen bewegte er sich etwas ungelenk. Edda fand ihn verklemmt, in seiner betont korrekten Art eher komisch und hatte ihn mehrmals abgewiesen. Jetzt erhörte sie ihn und gab seinen unbeholfenen sexuellen Versuchen nach, ja sie half bis an die Grenze des Schicklichen mit, um das Gelingen einer Verführung durch ihn nicht zu gefährden.
Am nächsten Tag schrieb sie einen Brief an die Eltern. Sie werde das Studium aufgeben und heiraten. Wilhelm Dahlhaus sei ein tüchtiger Mann, der schon bald in den höheren Schuldienst treten werde und somit eine Familie ernähren könne. Wenn es ihm gelänge, eine Stelle in Berlin zu bekommen, würden sie sehr gerne das Angebot annehmen und das Jugendstilhaus bewohnen. Und außerdem sei sie schwanger.
Letzteres war zwar noch ungewiss, aber Edda hatte die feste Absicht, es in ganz kurzer Zeit zu sein, und ob sie es nun eine Woche vorher oder hinterher den Eltern verkündete, wer wollte sie dafür tadeln. Als Karl Franke den Brief gelesen hatte, war er zufrieden.
»Na Gott sei Dank! Nun wird doch noch alles gut.«
Und so kam es dann auch. Wilhelm Dahlhaus machte sein Examen und erhielt eine Stelle an einem Berliner Gymnasium. Edda brach ihr Studium ab. Sie heirateten und zogen in das freigeklagte Haus in Dahlem. Edda bekam einen gesunden Sohn, Kurt, und war mit ihren neuen Pflichten als Mutter und Hausfrau voll beschäftigt und zufrieden.
Wilhelm Dahlhaus stammte aus einer Lehrerfamilie. Sein Vater, ein Dorfschullehrer in Thüringen, war als technisches Genie mit einem Hang zum Sonderling über sein Dorf hinaus berühmt. Seine Schüler erinnerten sich in späteren Jahren gerne noch an seine physikalischen und chemischen Experimente, die mancher Experimentalvorlesung einer Universität gut angestanden hätten, aber nicht immer ganz ungefährlich waren und keinesfalls dem Stoffplan einer Dorfschule entsprachen. Aber sie waren eindrucksvoll, und die Kinder gingen mit Freuden zur Schule.
An kalten Wintertagen, wenn in den anderen Klassenräumen die Schüler beim Unterrichtsbeginn in Mänteln und Schals gehüllt saßen, mit den Holzschuhen klapperten und darauf warteten, dass der eben gezündete Kanonenofen endlich Wärme verbreitete, war es in Lehrer Dahlhausens Klassenraum schon lange warm. Er hatte einen alten Wecker umfunktioniert zu einem Zeitzünder, der über eine Zündschnur den am Abend vorher präparierten Ofen weit vor Unterrichtsbeginn anheizte.
Jeder, der diese Dorfschule besuchte, besaß eine als Camera lucida bekannte, unter Anleitung des Lehrers selbst gebastelte Vorrichtung zum Nachzeichnen von Gegenständen in der Natur. Das ganze Dorfleben Thüringens gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts, soweit es sich um unbewegliche Gegenstände handelte oder um Objekte, welche sich für die Dauer des Nachzeichnens zur Bewegungslosigkeit befehlen ließen, wurde so in unzähligen Zeichnungen festgehalten.
Als junger Ehemann besaß Wilhelm noch eine ansehnliche Zahl solcher kolorierter Pergamentblätter, die sein Vater vom Schulleben, von seiner Familie und von der neben der Schule von ihnen betriebenen kleinen Landwirtschaft angefertigt hatte. Dabei war es auffallend, dass der Hersteller der Zeichnungen aus dem dörflichen Wirtschaftsleben natürlich nicht darauf zu sehen war, aber immer seine Frau bei den verschiedenen Feld- und Stallarbeiten.
Noch vor Ausbruch des Krieges starb Wilhelms Vater an einem Magenleiden. Wilhelm war erst zwölf Jahre alt und litt sehr unter dem Verlust. Er verdankte dem Vater viel, so auch die Liebe zur Fotografie. Die unter Anleitung des Vaters gebastelte Camera obscura bewahrte er bis zu seiner Verhaftung auf. Drei Jahre nach der Geburt ihres Sohnes bekamen Edda und Wilhelm eine kleine Tochter; sie nannten sie Sophie. Edda war nun mit ihrem Leben zufrieden. Sie hatte zwei gesunde Kinder, einen Mann, der sie liebte und den sie lieben wollte, und ein Haus in Dahlem, das sie nach ihren Vorstellungen ausstattete.
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