Als ihre Schritte endgültig verklungen waren, stieg erneut Panik in Luke auf. Er war alleine und hatte nicht die leiseste Ahnung, was als Nächstes geschehen würde. Er atmete mehrmals tief durch und versuchte, seine Angst in den Griff zu bekommen. Es hatte keinen Sinn jetzt in Panik zu verfallen, sagte er sich selbst. Das Wichtigste war jetzt einen klaren Kopf zu bewahren, wenn er diesen Alptraum heil überstehen wollte.
Nur langsam nahm er seine Umgebung richtig wahr. Er stand in einer kleinen, steril wirkenden Zelle. Gegenüber der Tür war ein vergittertes Fenster, von dem aus er auf den gepflasterten Hof des benachbarten Integrations-Centers blicken konnte. Hätte seine Zelle sich in einem der oberen Stockwerke befunden, hätte er vielleicht über die hohen Mauern sehen können, so aber war der kahle Hof das einzige, was ihm das Fenster zeigte.
Luke wandte sich von dem beklemmenden Ausblick ab und betrachtete seine Zelle genauer. Doch gab es da nicht viel zu sehen. In der Ecke links neben dem Fenster befand sich eine Toilette und an der rechten Wand stand eine Metall-Pritsche mit einer schäbigen Fleecedecke. Das war alles, was sich in dem großen Raum befand.
Luke setzte sich auf das harte Bett, lehnte sich an die Wand und schlang seine Arme um die angezogenen Beine. So zusammen gekauert starrte er an die gegenüberliegende Wand. Dabei versuchte er nicht zu denken. Denn sobald sein Gehirn anfing über seine momentane Situation nachzudenken, stiegen ihm erneut Tränen in die Augen. Aber er wollte nicht schon wieder weinen. Er war schließlich kein kleines Kind mehr, das bei jeder Kleinigkeit los greinte. Er war zwar vielleicht auch noch kein Mann, aber er fühlte sich den Kinderschuhen doch deutlich entwachsen.
Luke musste wohl eingeschlafen sein, denn als plötzlich ein gedämpfter Schrei durch das Fenster zu ihm herein gellte, wäre er fast von der Pritsche gefallen. Alarmiert sprang er auf und blickte durch die Gitterstäbe nach draußen, auf den Hof.
Dort bot sich ihm ein erschreckender Anblick.
In der Mitte des Hofs, etwa 30 Meter von seinem Fenster entfernt, befanden sich drei Männer. Zwei trugen die Uniform der Supervisoren, der dritte Mann krümmte sich, vor Schmerz schreiend, zu ihren Füßen.
Luke konnte die Schreie trotz der Fensterscheibe noch deutlich hören, und ein Schauer lief ihm über den Rücken.
Der Gepeinigte hatte mit beiden Händen einen schmalen Ring um seinen Hals umklammert und zerrte aus Leibeskräften daran. Dabei zuckten seine Arme und Beine unkontrolliert.
Die Schreie auf dem Hof waren inzwischen verstummt und der Gefolterte lag reglos auf dem Boden. Die Supervisoren schienen ihn anzubrüllen, aber Luke konnte nicht verstehen, was sie sagten. Dann traten sie dem Mann zu ihren Füßen in den Bauch und in die Seite, bis dieser sich schließlich halb aufraffte, so dass er auf den Knien vor den Supervisoren kauerte.
Luke wandte erschüttert den Blick von dem Schauspiel ab. Er konnte den Anblick des gequälten Mannes nicht länger ertragen. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen als er darüber nachdachte, ob er wohl der Nächste war.
Als er nach ein paar Minuten erneut aus dem Fenster blickte, war der Hof wieder leer. Nichts erinnerte mehr an das grausame Schauspiel, das noch vor ein paar Minuten dort stattgefunden hatte.
Luke setzte sich auf seine Pritsche und atmete tief durch.
Seine Hände zitterten noch immer, aber sein Magen beruhigte sich allmählich wieder. Zumindest hatte er nicht mehr das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen.
Charles hatte sich direkt nach seiner Rückkehr in sein Arbeitszimmer begeben und widmete sich den Wochenberichten. Er hatte während der Fahrt seinen Fokus wiedergefunden und hatte sich nun wieder vollkommen unter Kontrolle. Der Gedanke an seinen verstorbenen Vater hatte ihm dabei geholfen. Sein Vater war stets sein Vorbild gewesen. Viele Jahre hatte er das Familienunternehmen, das wiederum sein Vater nach der Weltwirtschaftskrise Anfang des 21. Jahrhunderts aufgebaut hatte, wie ein Captain sicher durch die raue See befehligt. Er hatte nie sein Ziel aus den Augen verloren und niemals Schwäche gezeigt.
Charles schnaubte leise bei dem Gedanken an diese peinliche Entgleisung. Jetzt, wo er wieder er selbst war, musste er fast lächeln.
Warum bloß war er so weich geworden? Er hatte schon einige seiner Bekannten und Freunde in die Sklaverei gehen sehen und bei keinem hatte er auch nur einen Anflug von Mitgefühl empfunden. Warum auch? Alle waren selbst an ihrem Schicksal schuld gewesen und sie alle erwiesen nun einen guten Dienst, indem sie den Reichtum ihrer Master mehrten.
Er legte das Datapad mit den Wochenberichten der Supervisoren zur Seite. Er hatte keine Lust, sich mit den kleineren und größeren Vergehen seiner Sergia zu befassen. Im Prinzip war es auch nicht so wichtig. Schließlich hatten seine Supervisoren sich schon der Probleme angenommen und die betreffenden Delinquenten entsprechend bestraft.
In diesem Punkt hatten seine höherrangigen Mitarbeiter freie Hand. Nach etwa zehn Dienstjahren wurde ein Wachmann in den Rang eines Supervisors erhoben. Nach dieser Zeit hatte er genug Erfahrung um die Sergia selbständig zu führen. Und dieses System funktionierte gut. Es kam nur selten vor, dass einer der Grand-Supervisoren oder gar Charles selbst, ein Urteil abändern mussten.
So überflog Charles meist nur die Wochenberichte, denn es war ja nur eine nachträgliche Information. Und manchmal war das für seine Sergia gar nicht von Nachteil, denn der ein oder andere Supervisor war doch eher milde in der Wahl des Strafmaßes.
Aber solange das Geschäft lief, wollte Charles sie dafür nicht zurechtweisen. Erst wenn gehäuft Ungehorsam auftrat, so dass man annehmen musste, dass die Sergia ihre Führung nicht mehr ernst nahmen, griff Charles ein. Dies war jedoch erst einmal vorgekommen.
Damals hatte sich ein Supervisor mit einer jungen Sergia eingelassen. Charles tolerierte es, wenn seine Supervisoren sich mit den Mädchen ein wenig vergnügten, schließlich waren sie Männer, und irgendwo mussten sie ihre Triebe ausleben. Aber bei diesen Beiden war es anders gewesen. Der Supervisor hatte sich in das Mädchen verliebt, und darüber vollkommen seine Pflichten vergessen. Während sie gemeinsam ihre Flucht planten, lief auf der Farm, die er beaufsichtigen sollte, alles aus dem Ruder.
Die Sergia merkten schnell, dass ihr Aufseher nicht mehr bei der Sache war. Sie schluderten bei der Arbeit, stellten seine Anweisungen in Frage und wurden aufmüpfig.
Verblendet durch die Liebe zu seinem Mädchen, merkte der Supervisor dies allerdings viel zu spät, als dass er noch eine Chance gehabt hätte, die Situation alleine wieder in den Griff zu bekommen.
Als einige Sergia schließlich eine Revolte anzettelten, blieb ihm nichts anderes übrig, als Hilfe anzufordern. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen und der Supervisor verlor seine Anstellung.
Damals hatte Charles ernsthaft sein System in Frage gestellt, aber der Vorfall war ein Einzelfall geblieben. So überließ er das tägliche Geschäft auch weiterhin seinen Angestellten, und widmete sich selbst mehr administratorischen und repräsentativen Aufgaben.
Während er sich an diesen ärgerlichen Vorfall erinnerte, hatte Charles gedankenverloren auf das Bild seines Vaters gestarrt, das gegenüber an der Wand hing. Hätte er die Anzeichen vielleicht früher bemerkt? Hätte er schon reagiert, bevor es zum Aufstand gekommen wäre?
Hunderte Sergia hatten an diesem Tag ihr Leben verloren, als die Supervisoren die Revolte niederschlugen. So viele gute Arbeiter. Es hatte fast ein Jahr gedauert, bis die Verluste auf der Farm wieder aufgefüllt waren, und noch ein weiteres, bis die Farm endlich wieder einen Gewinn abgeworfen hatte.
Charles griff erneut nach dem Datapad, und nahm sich vor, die Wochenberichte wieder sorgfältiger zu studieren, um einen weiteren Vorfall dieser Art zu verhindern.
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