Leopold Federmair
PARASITEN DES
21. JAHRHUNDERTS
Essais aus beiden Welten
Die Drucklegung dieses Buches wurde gefördert von
den Kulturabteilungen von Stadt und Land Salzburg sowie vom
Land Oberösterreich.
www.omvs.at
ISBN 978-3-7013-1289-4
eISBN 978-3-7013-6289-9
© 2021 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Media Design: Rizner.at
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck-Germany
Covermotiv: Collage von Thomas Hartz aus der Serie „Parasit“
Pigmentdruck 90 x 60 cm, 2017
Copyright © Thomas Hartz
www.thomashartz.com
Grafische Gestaltung: Leopold Fellinger
Vorwort
I Lob des Parasiten
II Ironie off!
III Flüchtlingsgespräche in Oberösterreich
IV Gräuel der Gegenwart
Welche zwei Welten? Zunächst einmal die beiden, in denen im 21. Jahrhundert so gut wie jeder lebt, und zwar gleichzeitig und weltweit: die digitale und die „analoge“, die virtuelle und die reale, die sekundäre und die (immer noch) primäre, in der wir essen, trinken, schlafen, lieben, uns als beseelte Körper bewegen.
Zwei Welten, aber in Wahrheit sind es noch mehr, es sind viele Welten. Nur daß sich oft zwei aus dieser Vielheit gegenübertreten, Gegensätze bilden und/oder einander ergänzen. Wir können nicht alles auf einmal überblicken, nicht alles gleichzeitig haben. Das wäre eine schlechte, abstrakte Globalisierung, deren digitaler Nebel die Einzelnen und ihr konkretes Leben umspinnt, so daß sie vor lauter Wald die Bäume nicht mehr sehen.
Eine zweite Bedeutung der Formulierung verweist darauf, daß ich meine Lebenserfahrungen in sehr unterschiedlichen kulturellen Kontexten gemacht habe und dazu neige, sie miteinander zu konfrontieren, zu vergleichen, in den Texten nebeneinander zu montieren. Ich kann nicht behaupten, daß ich alle Welten kenne, bei weitem nicht. Aber einige kenne ich, soweit man sie eben kennen kann – „Was weiß ein Fremder?“ –, und diese Außenperspektive erlaubt manchmal Erkenntnisse, die allzu große Vertrautheit mit dem „Meinigen“ nicht zuläßt. Diese Erfahrungen wirken dann zurück und verfremden den Blick auf das Meinige, das – für mich – Ursprüngliche: Oberösterreich, Österreich, Mittel- und Westeuropa.
Michel de Montaigne ließ sich von einem Mann, der zwölf Jahre lang in Brasilien gelebt hatte und nach Darstellung des Autors ein naiver Charakter und eben deshalb glaubwürdig war, ausführlich über die Sitten und Gebräuche in jener „neuen Welt“ berichten. Auch Montaigne kannte einiges von der Welt, hatte Reisen in Italien gemacht und davon berichtet, war aber höchst neugierig in Bezug auf neue, fernere, exotische Welten. Trotz aller Naivität scheint sein Gewährsmann die südamerikanischen Gesellschaften, die er kennenlernte, in etwas rosigem Licht dargestellt zu haben. Das spielt für die Qualität der Essais aber keine Rolle, denn erstens ist der Blick, ob naiv oder reflektierend, immer subjektiv, und zweitens kam es im 16. Jahrhundert darauf an, der geläufigen Verachtung der „Wilden“ etwas entgegenzusetzen. Ähnlich wie später Rousseau hegte Montaigne die Vorstellung, im Anfang der Zeiten, vor aller Zivilisierung, hätten die Menschen ein paradiesisches Leben ohne „künstliche Zwangsmittel“ geführt.
Im 21. Jahrhundert bestünde nun dank fortgeschrittener Zivilisierung und Technisierung die Möglichkeit, sich im Alltagsleben von vielen dieser Zwangsmittel zu befreien. Das Gegenteil ist der Fall. Als wollten wir alle das Parkinsonsche Gesetz vom unweigerlichen Wachstum der Bürokratie bestätigen, ziehen wir die sozialen Daumenschrauben immer weiter an. Auch diese Sehnsucht nach einem einfacheren, dabei aber reflektierten Leben teile ich mit Montaigne.
Ob er tatsächlich immer nur „sich selbst gemalt“ hat und sein einziger Gegenstand war, wie Montaigne im Vorwort zu den Essais behauptet, kann man getrost bezweifeln. Hier wird wohl auch das Understatement eine Rolle spielen. Montaigne steigert dieses klassisch-rhetorische Mittel bis zu dem Paradox, daß er dem Leser, an den er sich eingangs wendet, von seinem Buch abrät, weil dessen Gegenstand nicht sonderlich interessant sei. Die Rezeptionsgeschichte sollte erweisen, daß er interessanter war als das meiste, was in jener Epoche geschrieben wurde. Aber nicht nur deshalb, weil er oft Innenschau hielt, sondern wegen seiner Neugier auf die diversen Welten.
Der Essai – heute meist in der englischen Schreibweise – ist ein eminent und essentiell subjektives Genre. Interessant wird er dann, wenn die Persönlichkeit des Autors dies und jenes aus den Welten, den zeitgenössischen wie den historischen, durch Bücher vermittelten, aufgenommen hat und zu bewerten und durch seine Sprache und seinen Geist transformiert wiederzugeben weiß. Indem Montaigne von sich selbst erzählte, schrieb er über beide Welten – mindestens. Der Subjektivismus des Essays kann im 21. Jahrhundert, das sich so gern und so total dem Trug von Objektivierung und Optimierung ausliefert, als Kampfmittel gegen einen Zeitgeist dienen, der der Mehrheitsgesellschaft selbst gefährlich werden könnte, je mehr diese Tendenz kraft Automatisierung zur zweiten Natur wird. In diesem Sinn ist der Essai ein ebenso parasitäres wie notwendiges Genre.
In Ricardo Piglias Tagebüchern und in einem seiner Romane kommt eine „Bar beider Welten“ vor, irgendwo am Rand des Randes der Welt, in Mar del Plata. Frequentiert wird sie vom jugendlichen Autor und von einem „Engländer“, einem virtuellen Schriftsteller, den es absurder Weise in diese argentinische Provinzstadt verschlagen hat. El bar Ambos Mundos , die Konjunktion von alter und neuer Welt, wie sie Spanien einst verfolgte. (Heute gibt es sogar in Tokyo eine Bar, die sich so nennt.) Auf deutsch hat der Ausdruck zwei Bedeutungen: Wer zuviel hin und her schwingt, sich zuviel an mehreren Orten gleichzeitig aufhält, könnte die Orientierung verlieren und am Ende mit leeren Händen dastehen, ohne die eine, ohne die andere Welt, ein im atlantischen oder indischen Ozean versunkener Kolumbus. Verloren im transversalen Liniengewirr, in der gespenstischen Leere des Netzes: Dieser Gefahr zu wehren, hat sich der Verfasser der vorliegenden Essais vorgenommen.
Es ist noch nicht lange her, da erhielt ein südkoreanischer Spielfilm mit dem Titel Parasite den Oscar für den besten Film des Jahres, also die berühmteste Auszeichnung, die es weltweit auf diesem Gebiet gibt. Ich war, als ich den Film sah, fasziniert wie die meisten Zuschauer, doch fiel es mir schwer, bei den gegen Ende immer grausameren Szenen, die das Werk vollends zum Horrorfilm werden lassen, den Blick auf die Leinwand geheftet zu lassen. Diese Parasiten da, für die man zu Beginn des Films Sympathie oder wenigstens Mitleid empfinden konnte, werden Schritt für Schritt zu Schlächtern. Die Underdogs, die sich aus dem Elend erhoben haben, erweisen sich, sobald sie etwas wie Macht und Einfluß bekommen, als noch weit ärger als jene, denen sie einst ihren Wohlstand neideten. Letzten Endes sind alle Beteiligten Parasiten, die Reichen, die sich auf die Dienste der Armen stützen, um ihren Reichtum zu mehren, und die Armen, die die ganze Hand an sich reißen, sobald ihnen ein kleiner Finger gereicht wird. Im Normalfall spielt sich das ganze Geschehen als Austausch ab, die soziale Maschinerie schnurrt dahin, tagein, tagaus, die Dienste werden recht und schlecht bezahlt, so haben alle ihr Auskommen, ihren angestammten, überlieferten, schwer zu verlassenden Platz in der sozialen Hierarchie.
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