Harari neigt dazu, nichtmenschlichen Wesen eigene, geistige Fähigkeiten zuzuschreiben, wenn auch oft nur hypothetisch, im Modus der Vermutung. Er tut es zugleich auf ironische Weise, wobei der Grad seiner Ironie schwer bestimmbar bleibt, dem Urteil der Leser überlassen, von denen manche die Ironie gar nicht wahrnehmen werden. Vielleicht ist es gar nicht nötig, (Selbst-)Bewußtsein zu haben, um intelligente Leistungen hervorzubringen, die jene der Menschen immer weiter und bald auch immer schneller übertreffen. Computer, Rechenmaschinen, Algorithmen, körperlose, in gewisser Weise rein „geistige“ Programme, Gespenster sozusagen, könnten in nicht allzu ferner Zukunft die Dinge dieser Welt und auch die Menschen und ihre Angelegenheiten (z. B. wirtschaftlicher, medizinischer, moralischer Natur) besser verwalten, als die Menschen dies im Hinblick auf Tiere, Maschinen und sich selbst zu tun imstande sind. Jene intelligenten Maschinen könnten selbsttätig ein Innenleben entwickeln, das nicht zwangsläufig anthropomorph sein oder bleiben muß, und immer mehr, immer weiter lernen, damit aber eigene, unvorhergesehene Identitäten ausbilden, sich selbst auf eine Weise perfektionierend, wie es Menschen versagt ist. Es klingt nach den features eines Science-Fiction-Romans, aber die Maschinenwesen könnten die Macht ergreifen und eines schönen Tages beschließen, daß die Menschen nicht nur überflüssig sind, sondern stören; daß sie für ihre eigene „Gesellschaft“, ihre vernetzten Strukturen eher schädlich als nützlich sind und man sie deshalb am besten entsorgt, wie man es mit Parasiten eben so macht. Aber vielleicht sind die intelligenten Maschinen ja, im Unterschied zu den Menschen in diversen Epochen ihrer Geschichte, zu einem sanfteren Schluß gekommen: Jene Menschen, die Urväter der ersten Computergenerationen, sind gar nicht so schädlich, wie es einst den Anschein hatte; man kann ihnen problemlos eine Existenz in sorgloser Muße ermöglichen, solange sie sich nicht in die Belange der eigentlichen, der rationalen und rationellen Gesellschaft einmischen. Die Menscheit wird gewissermaßen ornamental, sie dient zur nostalgischen Verschönerung.
Vielleicht ist es also nichts als vergebliche, d. h. nostalgische und folglich überflüssige Liebesmüh, wenn ich versuche, eine kurze, ganz und gar provisorische Liste von Aspekten und Dynamiken, von Freuden und Leiden des Bewußtseins zu erstellen, und zwar mithilfe der methodenlosen Methode – alias Heuristik – des Brainstormings, des ungeregelten, frei assoziierenden Stöberns in meinem Gedächtnis, das sich durch eine inzwischen beträchtliche Erfahrung des Denkens und Beobachtens im Lauf der Jahre ausgebildet hat, ein wenig wie ein Tuchverkäufer in alten Zeiten, der seine Stoffe ausrollt und umlegt, faltet und entfaltet und glattstreift und gegen das Licht hält, und auch wieder einrollt (wie es die aus den Bergdörfern in die Stadt gekommenen indianischen Verkäuferinnen in Mexiko heute noch praktizieren). Fenster auf und durchlüften! Das Abgelagerte anheben, wenden, fliegen lassen! Vieles verwerfen, beiseitelassen, nicht einmal ignorieren.
Diesen Gedanken der menschheitlichen Überflüssigkeit, der Antiquiertheit des Menschen, findet man schon bei Günther Anders in dessen Nachkriegsphilosophie. Er selbst hat ihn nicht nur aus der kollektiven Erfahrung der Verwüstungen durch die Atombomben abgeleitet, sondern als Folge der immer umfassenderen Technisierung der Welt gesehen. Angesichts der für Menschen unerreichbaren Perfektion der Maschinen, wie man sie heute zum Beispiel an Schachcomputern, aber im Grunde genommen an jeder Rechenoperation sieht, muß der Mensch etwas wie „prometheische Scham“ empfinden, also das Gegenteil der klassischen und aufklärerischen Hybris. 16Unter diesen – immer noch neuen – Bedingungen käme es darauf an, nicht etwa „besser“ zu werden als die Maschinen oder mit ihnen gleichzuziehen, indem wir z. B. die Ausbildungsstätten durchdigitalisieren, sondern die besonderen Fähigkeiten des Menschen jenseits der Technik zu sehen, herauszuarbeiten und zu stärken: freie Zielsetzungen, Bewertung von Sachverhalten, Sinngebung, Interpretation, Geschichtsschreibung, einfühlsames Erzählen, ästhetisches Genießen, spielerisches Vergnügen.
Ich weiß nicht, ob eine Rechenmaschine oder eines ihrer Subsysteme Verantwortung übernehmen kann für eine andere: für andere Maschinen oder für das große Ganze, das Hypersystem, das im Unterschied zum großen Ganzen der Menschen, wie wir es in diversen Ausformungen aus der bisherigen Geschichte kennen, genau definiert und bezeichnet werden kann. Warum nicht: eine Verantwortungs- und Koordinationsmaschine, auf das Allgemeine – die Gemeinschaft – gewissermaßen spezialisiert. Diese Frage soll uns hier und jetzt nicht weiter kümmern, denn es geht mir immer noch in erster Linie um den Menschen, die Menschen in ihrer irreduziblen Vielheit. Ich frage mich, wie es um die Verantwortungsfähigkeit der jungen Menschen im Land, in dem ich lebe, bestellt ist, die zwar die Regeln, die man ihnen eingetrichtert hat, befolgen (und niemals auf ihre Sinnhaftigkeit hin befragen, ganz im Sinn von Wittgensteins Theorie des „Regelfolgens“ 17), vor allem dann, wenn möglicherweise Kontrollagenten zugegen sind, aus freien Stücken und nach eigenem Ermessen aber so gut wie nichts zu tun imstande sind, die Bedürfnisse anderer Gruppen, z. B. von Behinderten, nicht einmal erkennen, geschweige denn, daß sie diese in ihrem fremdbestimmten Handeln berücksichtigen. Ich spreche von Japan, hier mache ich diese Erfahrung tagtäglich und habe für mich den Schluß gezogen, daß die Einübung in ein äußerst rigides, detailverliebtes Regelsystem persönliche Verantwortung nicht fördert, sondern abtötet. In Europa mag das anders sein. Oder auch nicht. Jedenfalls wird in dieser stillen, nur sehr selten lautwerdenden Opposition, die hier durchwegs auf Unverständnis stößt, meine Sicht auf die menschliche Geistesmöglichkeit der Verantwortung geschärft. So sehr geschärft, daß mir ihre Erhaltung ein vordringliches Anliegen geworden ist, auch wenn ich mir oft genug sage: Du bist doch kein Aufpasser, kein Polizist, kein Moralapostel! Tatsächlich schauen mich die mit den üblichen Formeln um Entschuldigung ersuchenden, zustimmend nickenden Gesichter mit einem Blick an, der diese stumme Botschaft enthält: Du bist doch hier gar nicht zuständig!
Aber wer, wenn nicht ich, ist hier zuständig? Denke ich mir und verschweige diesen so seltsamen Gedanken.
Verantwortung. Antwort geben. Erst einmal sprechen. Nachdenken. Den Mund auftun. Und dann vielleicht handeln: ent-sprechend. Wem oder was antworten, entsprechen, tun? Aufgrund wovon? Von Werten, die man bedacht, abgewogen, gewählt hat; nicht von Regeln, zu denen man angewiesen wurde. Welche Werte? Es gibt deren viele (manchmal widersprechen sie einander, drängen sich vor oder verdrängen andere), und es gibt unterschiedliche Zusammenstellungen, Wertegebäude, Kodizes. Viele alte, selten neue Werte. Erweitere deinen Besitz, dein Vermögen, dein Einkommen. Steigere deine Macht. So steht es geschrieben: „Da kam der, der die fünf Talente erhalten hatte, brachte fünf weitere und sagte: Herr, fünf Talente hast du mir gegeben; sieh her, ich habe noch fünf dazugewonnen. Sein Herr sagte zu ihm: Sehr gut, du bist ein tüchtiger und treuer Diener.“ Die frohe Botschaft in kapitalistischem Geiste. Des Antichristen Nietzsche Zerbrechen an der selbstgestellten Aufgabe, neue Werte zu schaffen: Wen interessieren solche Hasardstücke heute noch?
Mich!
Alte Werte: Macht, Reichtum. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Unterwirf dir deinen Nächsten mit allen Mitteln. Denk stets, in jedem Einzelfall, an die allgemeinen Gesetze, die für jeden gleichermaßen gelten. Memento mori : Denk an den Tod, zieh aus diesem Gedanken den Schluß, daß es gilt, sich auf das Jetzt zu konzentrieren, oder auf das Ganze, auf deine oder die Geschichte, die Mit- und Nachwelt. Das Leben an sich sei der höchste Wert. Nicht immer. Es gibt keinen absoluten Wert. Oder? Aber Junge, Mädchen, überleg dir zumindest das, was du jetzt tust oder unterläßt (besonders letzteres!); fang etwas an, such dir was aus, du selbst bist der Mann, die Frau. Bediene dich deines Verstandes, der anders, unsicherer, tastend, aber auch vielfältiger und vielseitiger funktioniert als das allwissende Gerät, das du stets mit dir führst wie eine Prothese (wie es mittlerweile Pflicht ist), dein Schutzschild vor der Wirklichkeit. Durchdringe die Wirklichkeit und nimm sie auf, spüre sie und errichte sie, konstruiere, bessere aus, ändere! Definiere, was wirklich ist, bestimme die Wirklichkeit neu, werte sie um. Zum Beispiel: „Das Bergblau ist – das Braun der Pistolentasche ist nicht!“ Auch dies ein Wert, und zwar ein fundamentaler: Tu was! Oder tu nix, aber bekenne dich dazu!
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