Das neue Jahr hat weder Hoffnungen noch Befürchtungen erfüllt. Es geht alles so weiter wie bisher. Der große Computer-Crash zur Jahrtausend-Wende ist nicht eingetreten und ein „Weltenende“ erst recht nicht! Ist es nicht merkwürdig, dass sich gewisse Leute so sehr nach dem „Ende“ sehnen, dabei gehört unser Planet doch zu einem riesigen System sich untereinander bedingender Himmelskörper. Unser Gottbegriff dreht sich um so kleine Einheiten. In Wirklichkeit ist alles viel größer und mächtiger und auch ferner von unseren persönlichen Wünschen und Leiden. Dir und Karin wünschen wir alles Gute und Schöne. Habt ihr vor, einmal wieder nach Nordamerika zu kommen? Herzliche Grüße von John + Gisela
Lieber Gottfried, liebe Karin,
vielen Dank für die durch Angelika vermittelten interessanten Nachrichten. Die Buchstaben ä, ö, ü, werden von der Fax- oder E-Mail-Maschine nicht übermittelt. An dieser Stelle setzt die Maschine ein Fragezeichen. Abgesehen von diesen kleinen Schönheitsfehlern haben mich Deine Forschungsergebnisse natürlich gefesselt. Leider sind auch die Photos nicht übermittelt worden. Unsere Tochter hat dafür nicht das richtige Gerät.
Die „Lässigkeit der amerikanischen Soldaten“, wie wir sie 1945 erlebten, war wirklich eine große Überraschung für uns Deutsche! Wir kannten die krachende Zackigkeit des Militärs und der SS. Ich war einmal mit meiner Mutter beim Kommandanten, der ein kleines Büro hatte neben dem Büro des damaligen Bürgermeisters Müller (dem Stiefvater von Frau Thiemann). Das war wohl im Mai 45. Ein Soldat kam ins Büro und setzte sich mit einer Hinterbacke gemütlich auf den Schreibtisch des Kommandanten und unterhielt sich mit ihm. Wir waren natürlich sehr erstaunt. Vor amerikanischen Krankenhäusern und Kasernen standen Schilderhäuschen, aber die Wachhabenden saßen meist daneben auf einem zurück gekippten Stuhl und sahen sich Comicbooks an. Es geht also auch anders. Bei den Russen ging es dann wieder zackig zu. In allen Diktaturen herrscht „Ordnung“, auch besteht in denen ein mächtiges Rangsystem. Es ist doch sehr merkwürdig, dass im Arbeiter- und Bauernstaat DDR, viel mehr aber in der Sowjetarmee, diese erstaunlichen Rangunterschiede bestanden zwischen Offizieren und Mannschaften. Es gibt ja immer noch Leute, die das vergangene Russische System als „links“ bezeichnen. Die Russen unter Stalin (und später) lebten - wie die Deutschen unter Hitler - in einem Staatskapitalismus, waren also „rechts“. Da kamen die zwei schlimmsten Sachen, Diktatur und Kapitalismus, zusammen! Unser Kapitalismus braucht die Demokratie, um halbwegs erträglich zu sein.
Zur Affäre Kohl, die unterdessen auch eine Affäre der CDU geworden ist: „Die Zeit“ vom 27. Januar hat eine hoch interessante Artikelseriedarüber: „Parteichef Helmut Kohl“ (Roger de Weck), „Schaden, Freude“ (Christoph Dieckmann), „Was heißt eigentlich Ehre?“ (Marion Gräfin Dönhoff), „Immer noch schlimmer“ (Tobias Dürr), „Alles in bar“ (Jochen Buchsteiner). … Es ist zum Weinen. Andererseits wären diese Machenschaften eines Politikers, der viel zu lange an der Macht war, in einer Diktatur in Geheimarchiven verschwunden. Ich hoffe, dass der jetzt beginnende Reinigungsprozess die zwei Deutschland näher zusammenbringt, zumal wenn Biedenkopf zum Zuge kommen sollte.
Was in Österreich (Jörg Haider) vor sich geht, ist nicht schön, doch ist es ironisch, dass ausgerechnet die Amerikaner so scharf reagieren. Ich denke da an den vom amerikanischen Geheimdienst unterstützten Putsch gegen den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Allende in Chile, der den grässlichen Faschisten Pinochet zur Macht brachte und Tausenden das Leben kostete. Im Garten des Kalten Krieges wuchsen merkwürdige und schrecklich aussehende Blüten!
Zum Antisemitismus: Ich bin immer noch der Meinung, dass ein katholisches Milieu diesen in der Vergangenheit mit verursacht hat. Die Protestanten hatten immerhin eine innerkirchliche Bewegung (die „Bekennende Kirche“), die sich Hitler und seinen Lehren entgegenstemmte. In Rom gab es, abgesehen von einzelnen Priestern und Katholiken hier und da, keinen Widerstand gegen die Nazis. Mit der Lehre, dass Juden den „Heiland“ ermordeten, fängt das Unheil an.
Hoffentlich ist dieser schnell geschriebene Brief leserlich. Im April werden wir wohl für drei Wochen nach England fliegen, Ende August vielleicht nach Deutschland. Doch ist das noch unbestimmt. Alles erdenkliche Gute und Schöne wünschen wir Euch. Mit herzlichen Grüßen von John + Gisela
Lieber Gottfried, liebe Karin, wir bedanken uns sehr für Deinen „Rundgang durch die Geithainer Altstadt“ sowie die neusten Nachrichten Paul Guenther betreffend, und schließlich den ausführlichen Bericht über die unterirdischen Gänge in Geithain. Toll, was Du da alles zusammenträgst. Da wundert es mich nicht, dass Du kaum Zeit zum Briefeverfassen findest. Wir hörten mit Bedauern, dass der nette Herr Griesbach aus Dover/N.J., gestorben ist. Wenn Du an die Lehrerin Ulla Wienhöfer in Dover/N.J. schreibst, dann grüße sie doch bitte von uns. Es ist kaum zu glauben, dass in diesem Sommer vier Jahre seit unserer Reise nach Dover vergangen sind!
Zu Deinem „Rundgang“ kommen mir die Erinnerungen: Da heißt es, dass die Bürgerschule von 1877 bis 1925 als Schule benutzt wurde und bis 1952 die Stadtverwaltung beherbergte. Mir fehlt dort, dass Geithain 1945 in diesem Gebäude erst einmal eine recht bescheidene amerikanische Dienststelle beherbergte und vom Juli 45 an völlig geräumt wurde, um Platz zu machen für die russische Kommandantur. Wie lange die dort war, weiß ich natürlich nicht, doch war die Kommandantur im Sommer und Herbst 45 ein „Prachtbau“, den man nicht übersehen konnte und sogleich das Zentrum der Macht. Um das ganze Gelände zogen die Russen einen mindestens zwei Meter hohen Holzzaun mit hölzernen, zwiebelförmigen Ornamenten auf den Pfosten. Die Bildnisse von Marx, Lenin und Stalin (gemalt vom Geithainer Maler Niederwerfer, wenn ich mich recht an den Namen erinnere), sowie Spruchbänder mit kyrillischen Schriftzeichen, schmückten die Fassade. Auf einem dieser Spruchbänder stand (so wurde es uns übersetzt) “Stalin, unsere Sonne“. Nach dem Sieg über Deutschland war Stalin auf der Höhe des später kritisierten „Personenkults“, und die Auswirkungen dieses Kults in Geithain sind aus historischen Gründen erwähnenswert. Innen sah die Kommandantur wie ein prächtiges Hotel aus. Auf dem Fußboden der Eingangshalle und die Treppe hinan lagen Teppiche. In der Halle standen Sofas unter Palmen und Gummibäumen. Oben im ersten Stock war, in der Mitte, das Zimmer des Kommandanten, tadellos möbliert mit den dunklen, geschnitzten Möbeln (Schreibtisch, Ledersessel, Ledersofa, Rauchtisch etc.), die man aus dem Herrenzimmer von Herrn Magnussen (der kurz vor dem Einmarsch der Russen mit seiner Familie nach Schleswig-Holstein geflohen war) herbeigeschafft hatte. Oben im Festsaal schliefen etwa 40 – 60 russische Soldaten. Die Offiziere hatten sich in Villen an der Robert-Koch-Straße und anderswo einquartiert. Nicht jeder Ort in Sachsen hatte damals eine Kommandantur. Ich war oft in diesem Gebäude, da der Sommerhof diese „Garnison“, wenn du es so nennen willst, mit Nahrungsmitteln versorgen musste. Fast täglich gab es Lieferungen an Milch, Butter, geschlachtetem Federvieh, Eiern, etc.. Ich glaube, Dir davon vor Jahren berichtet zu haben. Auch mussten die Bauern der Umgebung im Büro des Offiziers, der verantwortlich war für die Landwirtschaft, jeden Tag die Direktiven für den nächsten Tag abholen und eingehend über die Tätigkeit des Tages berichten. Also: Wie viele Fuder Heu oder Getreide wir eingefahren hatten, wie viele Acker beerntet oder gepflügt wurden, wie viele Schweine oder Kälber das Licht der Welt erblickten, etc. etc.. Über alles wurden Statistiken aufgestellt.
Читать дальше