»Der was?«, fragte Stoner.
»Der Hahn im Korb«, erklärte Gwen. »Das ist eine Redewendung. Sie bedeutet …«
»Genau das, wonach sie klingt«, sagte Delia.
Gwen nahm ein Schlückchen Kaffee. Als sie die Tasse wieder absetzte, schepperte sie klirrend gegen die Untertasse.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Stoner.
»Völlig.« Sie rückte ihren Toast auf dem Teller zurecht und räusperte sich. »Schöner Tag heute.«
»Lasst euch nicht täuschen«, meinte Delia. »Um diese Jahreszeit kannst du ab vier Uhr nachmittags schon beim Überqueren der Straße für immer verloren gehen. Woher kommt ihr Mädels?«
»Boston«, sagte Stoner.
»Ziemlich große Stadt.«
»Oh ja«, sagte Gwen strahlend. »Sehr groß.« Sie sah Delia an und duckte ihren Kopf.
»Ich komm mehrmals im Jahr da runter. Kommt mir immer alles ’n bisschen verzweifelt vor, wenn ihr wisst, was ich meine.«
»Ich weiß genau, was Sie meinen«, sagte Gwen. »Verzweifelt trifft es wirklich hervorragend.«
Stoner starrte sie an. Was ist hier los ?
Gwen fing ihren fragenden Blick auf und konzentrierte sich vollständig darauf, die Enden ihres Löffels und ihres Messers in eine Linie mit der Tischkante zu bringen.
»Ist der Fleischpudding kalt, Schätzchen?«, fragte Delia.
»Nein!« Gwen aß eine Gabel voll, lächelte scheu und strich sich die Haare hinter die Ohren.
»Wenn’s dir nicht schmeckt, lass es ruhig stehen. Ich bin nicht empfindlich in diesen Dingen.«
»Nein, wirklich, es schmeckt mir. Es schmeckt mir sogar sehr!«
Kurioser und kurioser, wie Marylou sagen würde. »Gwen, wenn du lieber etwas anderes …«
»Es ist prima .«
»Ich dachte, du hast Hunger.«
»Hab ich auch. Aber deshalb muss ich doch nicht gleich essen wie ein Scheunendrescher, oder?«
»Na ja«, meinte Stoner, »eigentlich bin ich das von dir gewöhnt.«
Ein mörderisches Funkeln trat in Gwens Augen. »Stoner …«
»Stoner?« Delia wandte sich ihr zu. »Ist das ein Familienname?«
»Ich bin nach Lucy B. Stone benannt.«
»Ach«, sagte Delia, »was sagt man dazu.« Sie drehte sich wieder zu Gwen. »Und wie heißt du? Gloria Steinem?«
»Gwen«, sagte Gwen. »Gwen Owens.«
»Kurz für Gwyneth«, erklärte Stoner.
»Wie hübsch. Klingt nach Schneegestöber.«
Gwen wurde rot. »Es ist Walisisch.«
Die ältere Frau legte ihren Arm über die Stuhllehne und studierte den Rauch ihrer Zigarette. »Walisisch. Also, das ist vielleicht ’ne Sprache, da kriegst du vom bloßen Zuhören schon Knoten im Mund. Geschrieben sieht es aus wie das, was beim Scrabble übrigbleibt.« Sie legte ihre Hand auf Gwens Unterarm. »Ich mein’s nicht persönlich, Herzchen.«
Gwen starrte auf die Hand.
Eigenartig. Wirklich eigenartig.
»Ich zum Beispiel hab ’n Namen, an dem ein Pferd würgen müsste. Papadopoulou. Hab ihn jahrelang nicht mehr gehört. Die Leute nennen mich Delia, oder Dee, oder He, Sie.«
»Der Name meines Mannes war Bryan Oxnard«, sagte Gwen. »Stoner und ich haben ihn umgebracht.«
Delia saugte an ihrer Zigarette. »Ich hätte gedacht, dass eine Scheidung weniger aufwendig ist. Katholisch? Oder jähzornig?«
»Es war ein Unfall«, sagte Stoner. »Aber ihr Mann war nicht sehr nett.«
»Ach ja …« Delia nickte. »Ich hab schon so einige bösartige Typen kennengelernt. Aber du siehst mir gar nicht aus wie eine, die Leute wütend macht.«
»Sie nicht«, warf Stoner ein, »aber er.«
»Stoner, ich bin sicher, dass Mrs. … Mrs. … sich nicht für unsere Probleme interessiert.«
»Teufel«, sagte Delia, »eure Probleme sind immer noch interessanter als meine eigenen.«
»Sie haben Probleme?«, fragte Gwen.
»Die Tage durchzustehen, das kann ein Problem sein.«
»Das tut mir leid.«
»Nicht deine Schuld, Herzchen.«
Gwen lief tiefrosa an.
»Bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?«, fragte Stoner.
Gwen stieß ihren Stuhl zurück. »Entschuldigung. Ich muss den Waschraum benutzen.«
»Durch die Küche, dann rechts und die Treppe hoch. Tritt nicht auf die Katze.« Delia drückte ihre halbgerauchte Zigarette aus und zündete eine neue an. »Sie sagen, auf die Art kann man es einschränken. Ich glaub aber eher, auf die Art kann man pleitegehen.« Sie deutete auf Gwens Stuhl. »Ist sie immer so höflich?«
»Normalerweise nicht. Ich weiß nicht, was los ist.«
»Hoffentlich jage ich ihr keine Angst ein.«
»Das bezweifle ich.«
»Na ja«, sagte Delia, »man kann nie wissen. Erinnert mich an mich selbst, wie ich das erste Mal mit Dans Familie zusammentraf. Ich war so erpicht darauf, einen guten Eindruck zu erwecken, dass ich alle nervös machte.«
Stoner begann ein Licht aufzugehen.
»Sonst scheint sie ein süßes Kind zu sein.«
»Sie ist einunddreißig!«, sagte Stoner.
»Herzchen, für Leute in meinem Alter ist jede unter vierzig ’n Kind. Was macht ihr Mädels eigentlich in Castleton?«
»Eine Besichtigungstour.«
»Hier? Da hättet ihr euch an Bar Harbour halten sollen. Dieses Loch hier versinkt zu Ostern in totales Koma. Wenn man es sich genau überlegt, ist hier eigentlich nie viel los.«
»Eine Freundin zu Hause in Boston bat uns, hier vorbeizuschauen und ihre Schwester zu grüßen. Vielleicht kennen Sie sie.«
Delia stieß ein Rauchwölkchen aus ihrer Nase. »Anzunehmen. Ich hab das unerhörte Pech, so ziemlich jeden in diesem Nest zu kennen.«
»Sie ist Pflegerin in Schattenhain.«
Die Frau verzog den Mund zu einer Grimasse. »Das is ’n seltsamer Haufen da.«
»Den Eindruck bekomme ich langsam auch.«
»Die verrückteste Sammlung von schrägen Vögeln, die ich je außerhalb eines Wanderzirkus zu Gesicht bekommen hab. Und ich meine damit nicht die Patienten.« Sie hielt inne. »Du bist doch nicht aus der Branche, oder?«
»Der Branche?«
»Na, gehörst du zu ihrer ›Kammer‹, wie sie das nennen?«
»Ich bin Reiseunternehmerin.«
»Dan und ich waren mal bei einem Reiseunternehmer, drüben in Augusta. Komische Art, seinen Lebensunterhalt zu verdienen.«
»Tja, das ist es wohl«, sagte Stoner.
»Hotels, Leute, Züge und Flugzeuge … kann mir einfach nicht vorstellen, wie man das alles geregelt kriegt.«
Stoner schmunzelte. »Wenn Sie wüssten, wie viel pures Glück dazugehört, würden Sie nie wieder verreisen.«
»Tja, das werd ich wohl so oder so nicht. Der Spaß an so was ist irgendwie futsch, seit Dan tot ist.«
»Das tut mir leid.«
»Mach dir nichts draus«, sagte Delia, »ich hab heute meinen Selbstmitleidigen. Wer ist diese Schwester, bei der ihr vorbeischauen sollt?«
»Sie haben ein Bild von ihr da drüben. Die Blonde hinter der Flunder.«
Delia stand auf und holte das Foto. »Claire? Klar kenne ich die. Ganz anderer Schlag als der Rest der Sippe, wenn du weißt, was ich meine.« Sie zündete sich eine neue Zigarette an. »Meinst du, dass das der richtige Weg zum Aufhören ist?«
»Keine Ahnung«, sagte Stoner. »Ich hab nie geraucht.«
»Gut, fang nie an. Es bringt dich um.« Sie betrachtete Claires Bild. »Nettes Kind. Bringt manchmal Patienten mit her. Die Einzige, die sich die Mühe macht.«
»Haben Sie sie in letzter Zeit gesehen?«
Delia dachte nach. »Jetzt, wo du davon anfängst, fällt mir ein, schon ein paar Wochen nicht mehr. Vielleicht hat sie’s hingeschmissen, könnte ihr niemand verübeln.«
»Ihre Schwester hat auch nichts mehr gehört. Sie sagt, das passt nicht zu ihr. Deshalb …«
»Herrje«, unterbrach Delia, »hoffentlich ist sie nicht in diese verdammte Geschichte verwickelt, weiß der Teufel, was da draußen vorgeht.«
Stoner wandte sich den Eiern auf ihrem Teller zu. »Was geht denn da draußen vor?«
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