Arnold setzte sich auf den größten der Felsen und ruhte sich kurz aus. Auch Mechthild nahm Platz.
„Wusstest du, dass hier, vor langer Zeit, dein Onkel Simon bei einer Jagd ums Leben gekommen ist?“
„Hier auf diesen Felsen?“
„Nein, dort unten. Aber auf diesen Felsen hat der Knecht von Simons Vetter gelegen und ihn mit einer Armbrust erschossen.“
„Aber das ist ja entsetzlich! Warum hat er das getan?“
„Simons Vetter Walther wollte Graf von Homburg werden und wurde es später auch, bis man hinter sein falsches Spiel gekommen ist und erkannt hat, dass dein Vater der wahre Graf ist.“
„Das hört sich spannend an. Erzählst du mir genau, wie das war?“
„Vielleicht später einmal. Komm, wir gehen weiter.“
Arnold sprang auf und rannte zum Weiher. Bevor Mechthild etwas sagen konnte, hatte er sich seiner Lederschuhe entledigt, die Beinlinge hochgezogen und watete durch das seichte Wasser.
„Aber Arnold! Es ist doch noch viel zu frisch!“
„Vielleicht kann ich mit meinem Speer einen Fisch fangen!“
Der Junge watete durch das Schilf am Ufer und spähte angestrengt ins Wasser. Als er einen kleinen Fisch entdeckte, blieb er ganz ruhig stehen, kniff die Augen zusammen und hielt die Luft an. Blitzschnell stach er mit dem Speer zu, doch der Fisch war noch schneller und verschwand.
„Schade, beinahe hätte ich ihn erwischt! Dann hätte Emma uns Fisch braten können!“
„Das hätte bestimmt für die ganze Burg gereicht“, scherzte Mechthild.
Auch seine nächsten Versuche scheiterten. Arnold stieg aus dem Wasser und rannte durch die Wiese, bis seine Füße wieder trocken waren. Als er endlich genug davon hatte, gingen sie hinüber zur Burgruine. Dort band Arnold sein Holzschwert ab und begann wild gegen unsichtbare Feinde zu kämpfen. Mechthild setzte sich auf die Mauerreste und sah ihm zu. Wie würde es sein, wenn das neue Kind erst da wäre? Hätte sie dann überhaupt noch Zeit für Arnold? Ihre Spaziergänge im Wald würden seltener werden. Auch ließe sie Margareta hochschwanger überhaupt nicht mehr alleine ziehen. Aber bis dahin war noch Zeit. Vielleicht sollte sie noch warten, bevor sie von ihrer Schwangerschaft berichtete. Dann könnte sie noch ein wenig ihre Freiheit genießen.
Mechthild packte das Brot und den Speck aus. Sie schnitt beides in Stücke und rief dann:
„Ist da vielleicht ein hungriger Ritter?“
„Ja, gewiss!“
Arnold kam angerannt und ließ sein Schwert auf den Boden fallen. Er setzte sich zu Mechthild auf die Mauer und ließ es sich schmecken.
„Hm! Draußen an der frischen Luft schmeckt es immer am besten!“
Arnold langte reichlich zu. Er biss immer abwechselnd von Brot und Speck ab und musste fest kauen.
„Aua! Oh, sieh mal - mein Zahn!“
Arnold hielt Mechthild überrascht den kleinen weißen Milchzahn entgegen.
„Tatsächlich! Der erste Wackelzahn ist draußen! Mein kleiner Junge wird groß!“, Mechthild lächelte und betrachtete anerkennend den Zahn.
„Das müssen wir unbedingt Vater erzählen! Jetzt muss er mich auf die nächste Jagd mitnehmen! Komm wir gehen gleich zurück!“
Arnold war zu aufgeregt, um noch weiter zu essen. Mechthild packte alles zusammen und dann traten sie den Rückweg an. Arnold hatte den Zahn behutsam in seinen Beutel verstaut und begann begeistert Jagdlieder zu singen. Auch Mechthild stimmte mit ein. Als sie den Ritterübungsplatz erreichten, wo die Grafen gerade mit den Rittern übten, schaute Konrad erstaunt auf und kam ihnen entgegen.
„Na, ihr seid aber gut gelaunt!“
„Vater, Vater!“, rief Arnold, „sieh, was ich hier habe!“
Der Junge zog ganz aufgeregt den kleinen Zahn aus seinem Beutel und hielt ihn dem Vater hin.
„Was ist denn das? Das ist ja ein Zahn! Komm lass dich ansehen! Zeig mir deine Zähne.“
Arnold öffnete mit einem breiten Grinsen den Mund und zeigte seinem Vater die Zahnlücke.
„Unser kleiner Junge wird zum Mann!“, rief Konrad erfreut.
„Jetzt übertreib nur nicht,“ Mechthild lächelte, „sonst will er gleich nach Kirkel und Page werden.“
„So lange dauert das auch nicht mehr.“
Wehmütig wurde Mechthild bewusst, dass Konrad damit recht hatte. In spätestens zwei Jahren würde Arnold Page sein! Sie durfte gar nicht daran denken! Umso wichtiger war es jetzt, dass sie so viel Zeit wie möglich mit ihm verbrachte.
„Vater, hier sieh meinen Speer! Ich habe ihn selbst geschnitzt. Er ist vorne ganz spitz. Beinahe hätte ich einen Fisch damit gefangen.“
Während Arnold bei Konrad blieb und seinem Vater vorführte, wie er mit dem Speer Fische fangen konnte, verabschiedete sich Mechthild und ging zum Burgbrunnen, um sich ein wenig zu erfrischen. Sie bat eine Magd, einen Eimer mit frischem Wasser hochzuziehen und wusch sich Hände und Gesicht mit dem kühlen Nass.
„Grüß dich Mechthild!“, ertönte eine Stimme vom Oberhof der Burg herunter. An den Zinnen, die den Oberhof begrenzten, stand Mechthilds Schwester Irmgard mit ihren Töchtern Jutta und Katharina und winkte herab.
„Seid gegrüßt, ihr drei!“
Mechthild machte sich lächelnd auf den Weg die Treppen hinauf. Irmgard war ein wenig fülliger als Mechthild, aber ansonsten glich sie ihrer Schwester wie aus dem Gesicht geschnitten, die gleichen haselnussbraunen Haare und dunklen Augen und die Grübchen in den Wangen, die sich beim Lächeln besonders abzeichneten. Ihre Tochter Jutta war fast ein Jahr älter als Arnold. Sie trug das lange glatte, blonde Haar ordentlich geflochten. Über ihr blaues Kleid hatte sie eine weiße, saubere Schürze gebunden. Wie so oft sahen ihre blauen Augen leicht tadelnd auf Mechthild herab, deren Garderobe bei ihrer Wanderung durch den Wald ein wenig gelitten hatte. Doch die kleine Katharina, die kaum fünf Jahre zählte, war ein richtiger Wildfang. Ihre braunen Locken ließen sich einfach nicht bändigen und ihr braunes Kleidchen wurde immer von ein paar Flecken geziert. Sie war das Gegenteil ihrer großen Schwester und strahlte Mechthild aus ihren grünen Augen an.
„Warst du wieder im Wald, Tante Mechthild?“
„Ja, ich habe einen Spaziergang mit Arnold gemacht. Wir waren drüben an der Merburg. Es war wunderschön! Wollt ihr nicht auch einmal mit uns kommen?“
„Oh, ja!“, frohlockte Katharina begeistert.
„Aber Tante, das ist doch viel zu gefährlich!“, rief Jutta entsetzt.
„Wenn wir alle zusammen gehen und vielleicht noch Ritter Hanricus mitnehmen, wird das schon gehen,“ mischte sich Irmgard ein.
„Können wir gleich morgen losziehen? Bitte, bitte!“, bettelte Katharina begeistert.
„Wenn Konrad und Friedrich nichts dagegen haben.“
„Lasst uns nun zum Rittersaal gehen. Die Abendmahlzeit wird bald aufgetragen.“
Die Frauen und Kinder machten sich auf den Weg und nahmen an dem großen Herrentisch Platz. Es dauerte nicht lange, bis sich der Saal füllte. Konrads Mutter, Margareta, setzte sich auf ihren Platz in der Mitte der großen Tafel. Mit ihren zweiundsechzig Jahren war sie immer noch eine stattliche und würdevolle Frau. Sie trug ein schlichtes braunes Gewand und eine Kette mit einem goldenen Kreuz. Ihre grauen Haare hatte sie unter einer weißen Haube versteckt und ihr Gesicht wurde von Lachfältchen geziert. Die Grafen Konrad und Friedrich trafen mit ihren Rittern, Knappen und Knechten hungrig von ihren Übungen ein. Der kleine Arnold war immer noch an der Seite seines Vaters und redete mit ihm über Waffen. Auch das Gesinde fand sich ein und die Pagen begannen damit, das Essen aufzutragen.
„Hab ich einen Hunger!“, rief Graf Friedrich, Konrads Vetter, als der deftige Fleischeintopf seinen Duft verbreitete. Friedrich war nur wenige Jahre älter als Konrad, sein dunkelblondes Haupthaar begann sich zu lichten, doch dafür wuchs sein Bart umso dichter und sein grünes Wams spannte sich über seinem Bauch. Genau wie Konrad trug er den Titel „Graf von Homburg“. Gemeinsam und gleichberechtigt regierten sie über die kleine Grafschaft im Westrich.
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