Endlich war es ausgestanden. Die Frauen und Männer trauten sich kaum, ins Publikum zu schauen, das diese magere Leistung auch nur mit spärlichem Applaus bedachte. Nur eine schien vollauf mit sich zufrieden, Sie können sich denken, wer das wohl war.
Die Bühne füllte sich erneut. Ungefähr 20 gestandene Männer bevölkerten nun das Halbrund. Schon ihr Anblick unterstrich ihre Qualität. Durchweg dunkelgraue Anzüge, weinrote Hemden mit silbernem Schlips. Der Sprecher erklärte mit Witz die Vereinsstrukturen, der Abend begann, lockerer zu werden. Er erzählte, dass nächstes Jahr das 175-jährige Jubiläum anstehen würde. Einigen Herren sah man dieses stolze Alter nicht an, einigen glaubte ich sofort. Dann wurde noch die sogenannte „Frauenquote“ vorgestellt, die Chorleiterin – eine attraktive Brünette. Die in der ersten Reihe strengten sich nun besonders an. „Herbei, oh ihr Gläubigen“ war der Auftakt und mich überzog sofort eine Gänsehaut ob der tiefen Stimmen und dem starken satten Klang, den sie verteilten.
Genau! So hatte ich mir das vorgestellt, danke Jungs. Ich atmete durch, entspannte ein wenig und im Saal wurde es ganz still. Die folgenden Stücke „Gloria, Gloria, Gott in der Höh“, „’s Raachermannl“ und „Jubilate – Hört die Weihnachtsglocken klingen“ genoss ich noch, war ganz dabei und ließ meine Gedanken ziehen. Es folgte stürmischer Applaus und die Herrschaften bemühten sich zum Ausgang.
Inständig hoffte ich, der Abend sei doch noch gerettet, aber dann betrat der nächste Dorf-Singe-Clan die Stätte der Aufmerksamkeit. Grundfarbe der Anzüge war schwarz, gelbe Tücher für die Damen, orange Krawatten für die Herren. Die Aufstellung gelang so einigermaßen. Immerhin sangen sie die ersten geläufigeren Weihnachtslieder: „Alle Jahre wieder“ und „Leise rieselt der Schnee“. Das passte, war in Ordnung, weder besonders gut, noch besonders schlecht. Etwas lustig empfand ich das „Carillon de Vendome“. Das Programm wies es als Italienisch aus, es klang eher nach sächsischem Französisch. Das stimmte mich wieder heiter und lies mich auch noch ein Stück Wagners ertragen: „Weihnachten is, stille Nacht“. Dann waren sie wirklich still, fassten den mageren Beifall ab und trotteten davon. Auf zur letzten Runde, dachte ich mir und seufzte leise. Die Bühne füllte sich abermals und ward nun derart vollgestellt, dass sich mein Spott in Anerkennung wandelte. Der „Seniorenchor“ hielt Wort, es war keiner unter 60 Jahren dabei. Von den Farben her präsentierten sich die 50 Leute in schwarzen Hosen oder Röcken, weinroten Oberteilen mit (Sie ahnen es schon) gelborangen Schals für die Damen und weißen Hemden mit rotsilbernen Schlipsen für die Herren. Ich fragte mich die ganze Zeit, ob dieses textile Etwas um die Hälse Zufall ist (vielleicht ein Sonderangebot?) oder ein Erkennungsmerkmal: „Bitte lassen Sie mich durch, ich bin Chormitglied!“
Nun, die alten Leutchen sangen ganz passabel „Süßer die Glocken nie klingen“, „Vom Himmel hoch“ und „Oh Bethlehem, du kleine Stadt“. Es macht schon etwas aus, ob da nur zwölf Sänger stehen, von denen drei verkehrt unterwegs sind, oder viermal so viel, von denen man keine Ausrutscher hört. Die Senioren hatten meinen vollsten Respekt, der Abend war doch nicht ganz aus dem Ruder gelaufen. Gemeinsam stimmten wir noch das beliebte „Oh du fröhliche“ an, was alle Zweifler und Kritiker etwas versöhnte. Dann war alles vorbei, orange Nelken (Hilfe!) wurden verteilt und alles erhob sich von den Holzstühlen. Ich warf einen kleinen Geldbetrag in die überdimensionale Spendenbox, zog meine Wintersachen an und begab mich hinaus ins Dunkel.
So sei es
Horch in die Nacht
In die stille, die hohe
Derentwegen halt ein
Und – werd bedacht
Horch in den Tag
In den geschäftigen, lauten
Um den scheinbar alles sich dreht
Horch tief in ihn hinein
Und – horch ihn aus
Horch in dich selbst
In dein inneres Gespür
Sinnier und erkenn
Den Tag, die Nacht, die Freuden hier
Die reich leise weiter
Von Tür zu Tür
An der Ecke
Abseits vom lauten Getümmel
Weihnachtstrubel Hinterherhetzender
Gehüllt in Glühweinduft und Mandelaroma
Steht er –
Der Mann
An der Ecke
Verliert sich, nahe am Bauzaun
Die Grube an den gläsernen Neubau
Gleich dem Leben, das außer Sicht geraten
Abgespannt –
Der Mann
An der Ecke
Geht doch seinen Geschäften nach
Schwarz auf weiß wechseln
Zeitung und Besitzer ab und an den Platz
Falls jemand innehält –
Beim Mann
An der Ecke
Eines Tages ist er nicht mehr da.
So steht und rückt ins Licht die Frage:
Wer sucht? Weiß? Wohin
Und warum sich verlor
Das Bild vom Mann
An der Ecke?
Almut Fehrmann
„Am liebsten würde ich nach Chemnitz fahren, heute ist doch Bergparade“, drängelte Anita und warf ihm einen ihrer unwiderstehlichen Blicke zu. Sie wusste genau, dass sie nicht lange bitten musste, aber sie kokettierte gern.
„Naja“, murmelte Robert, „letztes Jahr hat es mir Spaß gemacht, die Musikanten und Bergmänner in ihren Trachten zu beobachten.“
„Das war so schön, wie sie voller Stolz und Würde an uns vorbeigezogen waren. Und erst die Kinder. So richtig feierlich. Los, komm, ziehen wir uns an!“
„Hast ja Recht, hoffentlich hört der Regen rechtzeitig auf, sonst weichen die alle ein, 900 Teilnehmer sollen es werden.“
„Ich freue mich schon, wenn sie wieder zum Schluss alle gemeinsam aufspielen.“
„Ich erinnere mich, dass ich Gänsehaut hatte. Im Herbst ’89 standen wir an der gleichen Straße, auch mit Gänsehaut. Weißt du noch?“
„Gab es da eigentlich die Bergparade auch schon?“
Robert wurde lebhaft. Er erhob sich vom Sessel, zog Jacke und Schuhe an und öffnete die Garage.
Seine Frau war nicht ganz so schnell gestiefelt und gespornt. Mit so einer schnellen Reaktion hatte sie nicht gerechnet.
Als die beiden in Chemnitz ankamen, lugte kurz die Sonne durch die Wolken. Mit den Vorbeiziehenden und den Beobachtern feiernd am Straßenrand, genossen sie die besondere Atmosphäre, die eine Bergparade erzeugt. Festlichkeit ohne Pomp.
Der Vorbeimarsch der Musiker war beendet, Schalmeien und Posaunen verklungen, die Menschenansammlung löste sich allmählich auf. Die meisten Leute bewegten sich in Richtung Weihnachtsmarkt.
„Wenn wir schon einmal hier sind, können wir einen Glühwein trinken“, schlug Robert vor.
„Dann müssen wir so lange bleiben, bis ich wieder fahrtüchtig bin und können noch einen Roster essen.“
„Daher weht der Wind“, sagte Anita, „ich rieche gebrannte Mandeln und höre schon die Musik. Mir wird ganz weihnachtlich.“
Freue dich, ‘s Christkind kommt bald.
Die beiden Rentner schlenderten eingehenkelt zwischen den hölzernen Buden entlang, genossen die Düfte und den festlichen Glanz. Vom Rathausturm ertönten Glocken, unten erklangen die alten und wohlbekannten Texte und Weisen. Glühwein unter dem Wärmestrahler, Riesenroster im warmen Brötchen, behagliche Sorglosigkeit. Jedoch nicht lange.
Rechts unten, auf dem Fußboden sitzend und mit dem Rücken an eine Säule gelehnt, hielt ein Mann im abgeschabten Mantel eine Bettelmütze vor. Ein Junge warf ihm einige Münzen aufs Pflaster und einen freundlichen Blick dazu.
„Musst du uns vor die Füße laufen? Pass doch auf!“, empörte sich Robert.
Anita zog ihn beschwichtigend zur Seite. „Schau, da drüben sind Schneiders, die haben wir lange nicht gesehen. Lass uns hingehen!“
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