1 ...8 9 10 12 13 14 ...23 Sie fand den Brief auf dem Tischchen in der Diele und schaute zu Flynn hinüber, als der mit einer zweiten Portion Stroganoff an ihr vorbeiging. „Kennen wir jemanden in Fernandina Beach, Florida?“, fragte sie ihn.
„Da habt ihr als Familie oft Urlaub gemacht, als du noch klein warst und dein Vater noch gelebt hat.“ Den Blick fest auf den Fernseher gerichtet, saß Flynn mit dem Teller auf dem Schoß da und warf seine Serviette Richtung Fernseher. „Komm schon, Schiri, jetzt lass die Jungs doch mal spielen.“
Beck schaute auf den Umschlag, der ziemlich offiziell aussah. Ihre Mutter hatte einmal erzählt, wie sie immer zu zweit sechs Wochen von Becks Sommerferien in Florida verbracht hatten. Die letzten drei davon war ihr Vater nachgekommen.
Aber ihre Mutter sprach, wenn überhaupt, nur selten über die gute alte Zeit oder kramte mit feuchten Augen in ihren oder Becks Lebenserinnerungen vor dem 11. September.
Beck atmete jetzt einmal tief durch, riss den Umschlag auf und faltete ein langes Schreiben auseinander. „Das ist das Testament von Mrs. Everleigh Callahan.“
„Was?“ Flynn schaute kurz zu ihr herüber und dann wieder auf den Bildschirm. „Everett wer?“
„Everleigh, habe ich gesagt, du Knalltüte. Guck einfach dein Spiel. Da steht …“ Aber dann blieben ihr die Worte im Hals stecken. „… ich bin die einzige Erbin.“ Sie schaute sich noch einmal den Umschlag und den Briefkopf an. Ja, der Brief war tatsächlich an sie adressiert. „Das muss ein Scherz sein.“
Im Fernsehen kam schon wieder Werbung und Flynn griff nach dem Brief. „Ich bin zwar kein Anwalt, aber das sieht echt aus. Du hast ein Haus in der Memory Lane Nr. 7, Fernandina Beach, Florida geerbt.“ Er zog ein Gesicht. „Und ihren gesamten Besitz, einschließlich aller Konten.“ Er gab ihr das Schreiben auf dem Rückweg in die Küche zurück. „Darüber redest du wahrscheinlich am besten mit deiner Mutter. Wer um Himmels willen ist denn Everleigh Callahan und wieso setzt sie dich als Alleinerbin ein?“
„Gute Frage, Flynn. Das würde ich selbst auch gern wissen.“
Mai 1953
Waco, Texas
Das Leben als verheiratete Frau passte zu ihr, aber daran hatte sie auch nie gezweifelt. Die Ehe erfüllte sie mit Freude und so viel Glück.
Vor acht Monaten war Everleigh Novak in der First Baptist Church die Frau ihres Cowboy Ranchers geworden und heute würde sie das Märchen noch um ein Kapitel erweitern.
„Rhett, mein Schatz, ich bin schwanger.“
Der Arzt hatte an diesem Morgen die Schwangerschaft bestätigt, doch das romantische Abendessen mit ihrem Mann heute Abend hatte sie schon länger geplant, weil sie an diesem Abend das Haus der Applegates ganz für sich allein haben würden. Ihre Schwiegereltern, die Respekt einflößende Mama Applegate und der sympathische Papa Applegate, Königin und König der „Circle A Ranch“, würden nämlich mit Freunden zusammen in der Stadt essen gehen.
Everleigh legte ihre Hand auf ihren noch flachen Bauch und blinzelte in den strahlenden Sonnenschein im Stadtzentrum von Waco.
Gott hatte sie freundlich angesehen an dem Tag, als Rhett sie zu dem Tanz eingeladen hatte. Ausgerechnet Miss Everleigh Novak war dem begehrtesten Junggesellen von Baylor aufgefallen, und er hatte von all den Mädchen, die um seine Aufmerksamkeit buhlten, sie erwählt.
Und jetzt trug sie seinen Nachkommen unter dem Herzen. Vielleicht einen Sohn, den nächsten Erben der Applegate-Ranch. Oder eine Tochter, die in diesen modernen Zeiten vielleicht auch eines Tages die Ranch weiterführen würde.
Ihr Sohn, ein künftiger Fullback im Football an der Baylor University, genau wie einst sein Vater.
Und ihre Tochter – im Unterschied zur Mutter – vielleicht eine künftige Homecoming Queen. Obwohl man sich da nicht täuschen sollte, denn als Rancher-Tochter würde sie teils Prinzessin, teils Wildfang sein.
Aber egal, ob Sohn oder Tochter, dieses Kind – und alle, die noch folgen würden – würde geliebt sein, sehr, sehr geliebt.
Sie runzelte die Stirn, als sich vor dem Bürofenster Wolkenberge auftürmten, den Sonnenschein verdeckten und einen Schatten auf die Stadt und ihren Zeichentisch warfen.
Everleigh betrachtete ihre Arbeit, die neueste Werbeanzeige für Kestner’s Family Department Store. Wenn sie nicht bis zum Feierabend mit den Korrekturfahnen fertig war und sie ihrem Chef vorlegte …
Sie nahm also den Tintenstift wieder zur Hand und fuhr fort mit dem Schattieren. Momentan konnte sie es sich noch nicht leisten, ihren Job als Werbegestalterin zu verlieren. Sie und Rhett sparten nämlich auf ein eigenes neues Haus.
Solange sie noch in Rhetts Kinderzimmer bei seinen Eltern wohnten, konnten sie jeden Monat ihr gesamtes Gehalt auf ein Sparkonto einzahlen.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich hier mal mit einem Mädchen zusammen sein würde“, hatte er in der ersten Nacht zu ihr gesagt, nachdem sie aus den Flitterwochen zurück waren.
„Also ich bin froh, dass ich die Einzige bin.“ Und dann hatte sie ihn geküsst, als wäre es das erste Mal.
Als sie jetzt noch einmal daran dachte, musste Everleigh leise lachen, denn als sie aus den Flitterwochen zurückgekommen waren, hatte er die Zimmertür abgeschlossen, bevor er ins Bett gekommen war, und dann war er noch einmal aufgestanden, um ein kleines Tischchen unter die Türklinke zu schieben.
„Das hier ist Mamas Haus. Wenn sie reinkommen will, glaub mir, dann kommt sie herein“ , hatte er zur Begründung gesagt.
Everleigh war gerade dabei, den Stiefelabsatz zu schattieren, als ihr noch eine Erinnerung kam.
Eines Nachmittags war Rhett zum Lunch nach Hause gekommen, und als er festgestellt hatte, dass Mama Applegate in die Stadt gefahren war, hatte er geglaubt, die Luft sei rein, und er könne seine frischgebackene Ehefrau für ein nachmittägliches Schäferstündchen nach oben in ihr gemeinsames Zimmer tragen.
Doch in der Aufregung hatte er ganz vergessen, die Tür abzuschließen, und dann war es gekommen, wie es kommen musste …
Noch vier Monate später sträubte sich in Everleigh alles, wenn Rhett in Gegenwart seiner Eltern auch nur andeutungsweise seine Zuneigung zeigte. Besonders, wenn seine Mutter dabei war.
„Mr. McCann möchte wissen, ob du mit den Stiefeln fertig bist“, sagte Betty Jo und überreichte Everleigh ein Layout-Muster der Zeitungsanzeige für die nächste Woche. Everleigh war richtig dankbar für die Unterbrechung, weil dadurch die peinlichen Erinnerungen beendet wurden.
„Er hat gesagt, du sollst darauf achten, dass die Maße der Anzeige ganz genau stimmen. Deine Zeichnungen von letzter Woche haben auf den Spaltenzwischenraum abgefärbt.“ Dann griff die Frau nach Everleighs Hand mit dem Ring und bemerkte: „Ich habe am Anfang gedacht, dass dein Kerl nicht die hellste Kerze auf der Torte wäre – viel Hut und wenig Hirn –, aber mit diesem Ring hat er mich überzeugt. Der ist wirklich fantastisch.“
„Dafür hat er auch ziemlich lange gespart“, erklärte Everleigh, zog ihre Hand weg und schaute sich das Layout-Muster für den Tribune Herald genauer an.
„Weißt du, was mein Mann mir zur Verlobung geschenkt hat? Ein Kind.“
Betty Jo lehnte sich an den Zeichentisch und kaute geräuschvoll Kaugummi. Sie war Anfang vierzig und eine Südstaaten-Giftspritze mit platinblondem Haar und knallroten Lippen wie Marilyn Monroe. Ihre Röcke waren so eng, dass sie sich nicht normal hinsetzen konnte, sondern sich auf ihren Stuhl fallen lassen musste. Und ihre Bluse, nun ja, der Ausschnitt offenbarte schon ziemlich viel.
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