„Ein Kind?“, fragte Everleigh, legte das Layout-Muster beiseite und nahm ihr Pica-Lineal zur Hand. Sie hatte die Anzeige fünf Punkte zu lang gemacht. „Was denn für ein Kind?“
„Na, ein Baby“, antwortete Betty Jo und tätschelte ihren Bauch. „Deshalb haben wir überhaupt geheiratet. Es war ein ziemlich holpriger und schwieriger Start, aber wir haben es überlebt. Das Kind ist jetzt fast zwanzig und nächstes Jahr mit dem College fertig.“ Sie nahm eine Zigarette aus dem Etui, das sie immer bei sich hatte.
„Mir ist schon klar, dass du jetzt so frisch verheiratet glücklich bist. Wie lange ist es jetzt her, sechs Monate?“
„Acht.“
„Na, dann warte mal ab.“
„Was soll ich abwarten?“, fragte Everleigh nach, legte das Lineal an die untere Kante der Anzeige und fuhr fort: „Rhett und ich lieben uns. Wir werden uns immer lieben und ein perfektes Leben haben.“
„Perfekt? Ach du liebe Güte. Nimm mal deine rosarote Brille ab, Pollyanna“, sagte Betty Jo und blies Everleigh Rauch ins Gesicht. „Junge Leute sind doch solche Traumtänzer. Alle Bräute glauben, dass ihre Ehe eine endlose Aneinanderreihung von Süßigkeiten, Blumensträußen, zärtlichen Küssen und Romantikwochenenden sein wird, und dass er pfeifend beim Geschirrspülen und Versorgen der Kinder und im Haushalt hilft. Aber dann sind zehn Jahre vergangen, und ohne dass man es merkt, kommt der Mann mittlerweile jeden Abend müde und missmutig von der Arbeit nach Hause, schüttelt seine stinkigen Stiefel ab und fragt: ,Was gibt’s zu essen?‘ Und er gibt dir nicht einmal mehr ein Begrüßungsküsschen. Höchstens noch auf die Wange – wenn du Glück hast. Und während du fertig kochst, den Tisch deckst, die Kinder zum Essen rufst und ihnen sagst, dass sie sich die Hände waschen sollen, sitzt er auf dem Klo und liest Zeitung, bis ihm die Beine einschlafen …“
„Betty Jo!“ Ein dicker Tropfen Tinte kleckste aus Everleighs Tintenstift mitten auf die Zeichnung. „Jetzt mach doch nicht alles schlecht, nur weil es bei dir so ist“, sagte sie empört und griff nach einem Lappen, um die Tinte wegzuwischen, aber vergebens. Sie musste den Fleck also in die Stiefelzeichnung einarbeiten.
„Wie du meinst. Wenn du dann irgendwann ankommst und von der guten alten Betty Jo einen Rat willst, dann verspreche ich dir auch, nicht ,Siehste!‘ zu sagen.“ Sie zwinkerte Everleigh zu, ließ ihre Zigarette auf den alten, abgenutzten Holzfußboden fallen und trat sie mit der Schuhspitze aus. „Jedenfalls nicht so oft.“
Und mit diesen Worten ging sie wieder. Die schwere dunkle Eichentür fiel hinter ihr ins Schloss, und ihr lautes Lachen hallte noch lange im Zeichenraum nach.“
„Was weiß denn die schon? ,Weißt du, was mein Mann mir geschenkt hat? Ein Kind.‘“
Everleigh stellte sich Betty Jos Mann Jeb vor und wand sich innerlich bei der Vorstellung, wie er auf dem Klo saß. Also die Frau konnte wirklich mit Worten Kopfkino erzeugen.
Everleigh mochte Jeb, einen schwer arbeitenden Mann, der auf den Ölfeldern schuftete und eher ein Macher war als ein Mann vieler Worte. Es konnte ja durchaus sein, dass Betty Jo die beschriebenen Probleme mit ihm hatte, aber bei Everleigh und Rhett war es anders.
Seit ihrem ersten Date konnte einer den Satz des anderen beenden, und wenn sie nicht zusammen gewesen waren, hatten sie miteinander telefoniert. Unmittelbar vor der Hochzeit hatte Rhett angefangen, ihr kurze liebe Briefchen zu schreiben.
Ich denke an dich. Nur noch zwei Monate, Rhett.
Nein, der Tag, an dem Rhett müde und missmutig nach Hause kommen und ihr kaum ein Küsschen geben würde, bevor er auf dem Weg ins Bad seine Stiefel abschütteln und dann dort sitzen bleiben würde, bis ihm die Beine einschliefen, dieser Tag würde nie kommen.
„Das wird nicht passieren, Betty Jo“, sagte Everleigh vor sich hin, stützte ihre Ellenbogen auf den Zeichentisch und schaute sich dann die Stiefel, die sie gezeichnet hatte, noch einmal ganz genau an. Wie lange würde sie wohl warten müssen, bis sie Betty Jo gegenüber damit angeben konnte, dass Rhett sie immer noch jeden Abend auf den Mund küsste?
Bis dahin stellte sich allerdings die Frage, was sie jetzt mit dem Tintenklecks machen sollte. Noch einmal von vorn anzufangen, kam nicht infrage, weil dazu die Zeit nicht mehr reichte.
Als sie gerade beschlossen hatte, weißes Papier über den Fleck zu kleben, spürte sie, wie zwei große Rancherhände ihre Taille umfassten.
„Hallo, meine Schöne“, flüsterte Rhett und drückte ihr seine warmen Lippen in den Nacken.
Everleigh drehte sich um und schaute ihm ins Gesicht. Wie kam es nur, dass er sie immer noch atemlos machte? „Was machst denn du hier?“
„Kann ein Mann seine Frau nicht mal bei der Arbeit besuchen?“
„Nicht mitten am Nachmittag, wenn er eigentlich gerade dabei sein sollte, auf der Südweide Zäune zu reparieren.“
„Ich habe mir den Nachmittag freigenommen, um mich um etwas anderes zu kümmern.“
„Und was ist dieses Andere?“ Sie suchte in seinem Blick nach Hinweisen auf sein Geheimnis. War es etwas Gutes? Etwas Schlimmes? „Was ist es? Sag’s mir.“ Er trug sein zweitbestes Sonntagshemd und darüber eine legere Sportjacke.
„Hör mal, Mister, bevor du weiterredest“, sagte Everleigh, hakte sich bei ihm unter und fuhr fort: „Egal, wie lange wir verheiratet sind, ich möchte einen richtigen Begrüßungskuss, wenn du abends nach Hause kommst. Und kein Sitzen auf dem Klo zum Zeitunglesen, bis dir die Beine einschlafen. Und ein Haus … Ach, Rhett, das wollte ich eigentlich gar nicht sagen, weil ich ja weiß, dass wir schon sparen, aber ich möchte so gern unser eigenes Haus. Können wir…“
„Hey, hey, Schätzchen, was ist denn los?“ Er hob ihr Kinn und küsste sie.
„Betty Jo hat gesagt, wie …“
Rhett lachte in ihr Haar. „Ach, die gute alte Betty Jo. Was hat sie denn jetzt schon wieder gesagt?“
Everleigh atmete Rhetts Duft nach Heu und Sonnenschein ein und antwortete: „Das Übliche. Nur Wäääh über die Ehe.“ Sie blickte zu ihrem Mann auf und fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar. „Sie behauptet, dass die Flitterwochen bald zu Ende sind und du dann irgendwann nur noch müde und missmutig nach Hause kommst, vergisst, mir einen Begrüßungskuss zu geben, deine stinkigen Stiefel einfach irgendwo abschüttelst, mich fragst, was es zu essen gibt und dann zum Zeitunglesen auf dem Klo verschwindest.“
Rhett drückte sie mit einem Arm fest an sich. „Liebling, ich verspreche dir einen richtigen Kuss, wenn ich abends nach Hause komme, egal, was passiert ist, und der Mann, der auf dem Klo sitzt und Zeitung liest, ist mein Vater, nicht ich.“ Dann legte er die Hand aufs Herz, sah sie dabei mit seinen sehr blauen Augen an und fragte: „Glaubst du mir?“
„Ja, von ganzem Herzen.“
Daraufhin gab er ihr einen Kuss auf die Wange und flüsterte ihr ins Ohr, sodass sie von seinem warmen Atem eine Gänsehaut bekam: „Ich kann nicht aufhören an dich zu denken, weißt du das?“ Wieder fand sein Mund ihre Lippen und er fuhr fort: „Du lenkst mich ab. Mein Vater gibt mir Aufgaben, und ich erledige sie nicht, weil ich Tagträume von dir habe.“
Everleigh sah ihm in die Augen und spürte die Liebe, die sie dort sah, bis in ihr tiefstes Inneres. Sie wusste, dass ihr dieser Moment ewig in Erinnerung bleiben würde. „Wie komme ich bloß zu dem Glück, dich zum Mann zu bekommen?“
„Na, derjenige, der hier Glück gehabt hat, bin ja wohl ich. Aber könntest du mir vielleicht einen Gefallen tun? Bitte hör nicht mehr auf Betty Jo, ja?“
„Versprochen. Aber dann gibst du mir auch nicht mehr die Schuld, dass du deine Aufgaben nicht erledigst?“
Rhett lachte. „Abgemacht. Aber es stimmt ja. Ich kann tatsächlich an nichts anderes denken als an dich.“
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