Michail, der den Gummi der eigenen Schutzmaske roch, fragte sich, ob dies der Gestank der Maske oder des eindringenden Gases war. Hechelnd versuchte er, den Atem unter Kontrolle zu bringen, als er durch die schlammverdreckten Sichtfenster den reglosen Pjotr liegen sah. Im Hagel des Dauerfeuers schrie er, dumpf in den Luftfilter der Atemmaske hinein, den Namen des Bruders. An den Schützenwall gelehnt, zog er den leblosen Körper Pjotrs auf seine Oberschenkel und umfasste von hinten dessen Brust.
»Pjotr! Wach auf, wach auf!«
Hilfe suchend schweifte Michails Blick wie im Traum den Graben entlang. Hunderte Gasgranaten hüllten bereits den gesamten Schützengraben ein. Schreie der Soldaten, die sich aufbäumten im Versuch, die Grube zu verlassen, um hierdurch den Giftwolken zu entkommen. Sie krochen über regungslose Gefährten durch glitschigen Schlamm den schützenden Wall hinauf, um dann, von den Salven der gegnerischen Gewehrkugeln durchlöchert, einzusinken. Gleich einem Film, der in Zeitlupe abgespielt wird, brannten sich die Bilder in Michails Innerem ein. Nie wieder würde er diese vergessen können!
Durch Tränen hindurch, die wie ein See in den runden Sichtfenstern der Atemmaske schwammen, sah er wieder zu seinem Bruder. Der blecherne Behälter mit dem Kohlefilter hing seitlich an Pjotrs Wange herab. Er muss sie aufsetzen! Warum hat er die Maske nicht auf? Hektisch riss er an ihr, doch ohne Erfolg. Sie muss verhakt oder verdreht sein, dachte Michail – und im Bruchteil einer Sekunde stand sein Entschluss fest. Er holte tief Luft und streifte seinen Atemschutz vom Kopf.
Gerade als er die rettende Hülle dicht auf Pjotrs Gesicht presste, spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Fast hätte er vor Schreck einen Atemzug getan, der seine Lungen mit dem giftigen Qualm füllen würde, als er eine Gestalt erblickte, die zu ihm herabsah. Ohne Schutz vor dem Gesicht, ohne Anzeichen einer Furcht, von den peitschenden Kugeln getroffen zu werden. Gütige Augen sahen ihn an. Das muss der Tod sein, dachte Michail, denn eine derartige Erscheinung hatte er noch nie zuvor gesehen. Dunkle Haut, nicht rußig, nein, eine schwarze Haut, kurze, gekräuselte Haare.
»Dein Bruder ist von uns gegangen.«
Jetzt erkannte Michail, wer da vor ihm stand, wer zu ihm sprach. Es war nicht der Tod. Nein! Es war ein Farbiger. Er hatte schon Bilder von Schwarzen gesehen, war aber noch nie einem begegnet. Er wollte Fragen stellen, doch dazu hätte er atmen müssen. Der Farbige griff zur Maske und legte sie Michail wieder an.
»Pjotr!«, flüsterte Michail verzweifelt in den Luftfilter hinein.
»Dein Bruder ist längst bei uns. Und du wirst ihm folgen.«
»Wer bist du? Was machst du hier?«, fragte Michail, indes all die Schreie seiner Kameraden – ja, der ganze Krieg um ihn herum in weite Ferne gerückt schienen. »Was meinst du damit, mein Bruder ist bei euch? Er ist doch hier. Bist du einer von uns?«
»Ich bin einer von euch. Der eine, der zurückkehren wird, um die Worte Throns zu verkünden.«
Michail verstand nicht. Zwar hörte er die Worte klar und deutlich, so als ob er mit diesem Fremden allein in einem Zimmer sitzen würde, doch er begriff deren Inhalt nicht. »Zurückgekehrt? Aber mein Bruder – Pjotr.«
»Michail, du bist einer der Engel. Und du wirst künftig auf meiner Seite stehen! Deine Seele ist rein. Deute die Zeichen.«
»Welche Zeichen?«
Noch bevor Michail weitere Fragen stellen konnte, lief der Farbige an ihm vorbei durch den Schützengraben, bis der Rauch seine Silhouette verschlang. Michail legte sich völlig entkräftet neben den toten Bruder, zu seinen toten Kameraden. Dann verlor auch er das Bewusstsein.
Kapitel 10: Die Erscheinung
Washington, D. C., Dezember 2015
Lea war am Tisch noch während des Mittagessens eingeschlafen. Die frische Luft des Vormittags hatte offenkundig ihr Übriges getan. Marc trug seine Tochter vorsichtig in den ersten Stock und legte sie ins Beistellbett, welches Sandra im Gästezimmer aufgestellt hatte. Dann schloss er leise die Tür und ging wieder hinunter. Der Truthahn, den Sandra schon tags zuvor zubereitet hatte, war gerade mal zur Hälfte verzehrt, doch alle in der Familie stöhnten ihrer vollen Bäuche wegen.
»Wollen wir noch einen Spaziergang machen?«, fragte Sandra, während sie gemeinsam mit ihrer Schwiegermutter Olivia die Teller in die Küche trug.
»Geht ihr ruhig«, meinte Janette, »ich bleibe solange hier, bis Lea wieder aufgewacht ist.«
»Soll ich bei dir bleiben?«, fragte Marc seine Frau.
»Nicht nötig, ich leiste Lea Gesellschaft. Ein Mittagsschläfchen kommt mir gerade recht.« Janette gab Marc einen Kuss auf die Wange, danach folgte sie Sandra in die Küche. »Los, Schwägerin, mach dich fertig zum Familienlauf. Ich räum das Geschirr in den Spüler und mache sauber.«
»Willst du sicher nicht mitkommen?«, fragte Sandra ein weiteres Mal.
»Einer muss auf Lea aufpassen. Ich lege mich nachher zu ihr. Vielleicht jogge ich heute Abend noch eine Runde.«
Zehn Minuten später hörte Janette die Tür ins Schloss fallen, während sie den Rest des Mittagessens in der Küche verstaute. Nachdem sie fertig war, machte sie sich auf den Weg ins obere Stockwerk zu ihrer schlafenden Lea. Gerade in dem Augenblick, da sie den Treppenabsatz des Foyers erreichte, hörte sie den Schrei der Tochter. Zwei Stufen auf einmal nehmend, hastete sie die Treppe nach oben in Richtung des Gästezimmers. Als sie die Tür aufriss, kniete Lea mit der über die Nase gezogenen Schlafdecke im Beistellbett.
»Was ist denn los, Liebes? Hast du schlecht geträumt?«
»Mama, ein Mann!«
Janette blickte sich im Zimmer um. »Da ist niemand. Wo ist er denn hin?«
»Weg, Mami.«
»Du hast unschön geträumt, mein Schatz. Komm zu mir.« Janette setzte sich auf die Bettkante und Lea legte ihr verängstigtes Gesicht in den Schoß der Mutter. »Ich träume auch manchmal Dinge, weißt du. Und dann erschrecke ich mich ebenso arg. Aber es sind zuletzt nur Träume und sobald du aufwachst, ist alles wieder gut.«
»War da, Mami.«
»Wie hat er denn ausgesehen, dein fremder Besuch?«
»Schmutzig.«
»Schmutzig?«, fragte Janette.
Lea nickte.
»Sicher hast du das geträumt. Jetzt leg dich wieder hin, Mami schläft auch ein wenig. Magst du zu mir ins Bett? Dann können wir kuscheln.«
Lea rannte erleichtert durchs Zimmer und machte einen Satz ins große Doppelbett. Lachend folgte Janette ihr. Wie rasch ihre Tochter doch die Angst vergaß und wieder unbeschwert war. Wenige Schritte vor dem Bett hielt sie inne, als ihr Blick auf den rosafarbenen Teppich fiel. Im ersten Moment dachte sie, Lea hätte etwas liegen lassen, doch dann erkannte sie die schlammigen Abdrücke einer … einer Stiefelsohle. Sie erschrak. Wie ein Blitz durchfuhr sie ein Gefühl von Furcht! Hektisch blickte sich Janette im Zimmer um, sah weiter nichts Außergewöhnliches, doch panische Angst hatte sie ergriffen.
»Lea, komm, komm schnell! Wir gehen nach unten und suchen die anderen.«
»Mami, kuscheln!«, protestierte Lea.
»Wir kuscheln später, Schatz. Jetzt komm!« Sie riss Lea aus dem Bett, drängte aus der Tür und stieß diese mit ihrem Fuß krachend ins Schloss.
»Mami!«
»Keine Angst, ich habe vergessen, dass ich Daddy versprochen habe nachzukommen, wenn du wach bist.«
Während sie mit Lea auf dem Arm ins Erdgeschoss eilte, wirbelte ihr Kopf aufgeregt von einer Seite zur anderen in der Befürchtung, jeden Moment würde ein Fremder ums Eck treten. Panisch durchquerte sie mit Lea das Foyer, hin zur Haustür.
»Schuhe?«, fragte Lea.
»Es ist warm draußen.«
Tatsächlich hatte der Spätnachmittag frühlingshafte Temperaturen, dennoch wunderte sich Lea, dass ihre Mutter in Strümpfen die Auffahrt hinunterrannte. »Marc, Sandra!«, rief Janette laut. Sie waren fünfzig Meter vom Haus entfernt, als sie von Weitem Marcs Stimme hörte – dann sah sie ihn am Ende der Zufahrt. Elias war im Rollstuhl neben Marc. Als dieser seine Frau ohne Schuhe herunterstürmen sah, lief er ihr eilig entgegen.
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