Burkhard Müller - Lufthunde

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»Lufthunde«: In Kafkas »Forschungen eines Hundes« sind das die rätselhaften Wesen, die, je für sich und geschieden von den anderen ihres Geschlechts, hoch oben durch die Lüfte treiben und ihrer Tätigkeit nachgehen. Was sie genau tun, ist schwer festzustellen, aber jeder kann ihnen zusehen, wie sie im Äther segeln.
»Lufthunde« heißt dieses Buch, weil es die Geschichte der deutschen literarischen Moderne in einer Reihe von Einzelporträts erzählt. Wichtiger als ihr Zusammenhang und wichtiger auch als das einzelne Werk ist die Gestalt des Autors, wie sie aus seinen Schriften hervortritt. Den Anfang macht Kafka mit seinen Tierparabeln; und es folgen so verschiedene Temperamente wie Musil, Rilke, Morgenstern, Gottfried Benn, auch Wilhelm Busch, unter den Frauen Irmgard Keun und Gertrud Kolmar.
»Nein, wirklich, wir haben es mit einem großen Autor zu tun«, schrieb Michael Maar in der FAZ und bescheinigte dem Autor bei dessen letztem Buch, dass er sich nunmehr »endgültig in der Thronreihe der deutschsprachigen Essayisten niederlassen kann«.

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Die hier angewendete Art, Texte auszuwählen, führt dazu (und das darf man nicht nur als einen Nachteil buchen), dass auch solche zum Vorschein kommen, die sonst kaum jemand der näheren Betrachtung gewürdigt hätte. Einige der vorherigen Stücke waren problematisch; dieses darf man mit Fug und Recht als schwach bezeichnen. Es hält sein Thema nicht. Zunächst scheint es um den Wert des Lebens überhaupt zu gehen, man vermutet eine Abrechnung mit den pessimistischen Theorien; auf sehr pedantische Weise wird auseinandergesetzt, warum wir keine vollständigen Daten zum Wert des Lebens gewinnen können, was wenig zur Sache tut. Dann aber, wiederum gelockt von nur einem Wort (»ungerecht«) und unter dem Vorwand des Beispiels, springt Nietzsche in eine völlig andere Bahn über: Plötzlich geht es darum, ob wir unsere Mitmenschen billig beurteilen können. Das können wir natürlich nicht. (Übrigens schließt das die Weiber ein – man sollte Nietzsche öfters mit sich selbst konfrontieren.) Wo, bitte, steckt hier das Problem? Sollte es je eins gewesen sein, so hat es sich jedenfalls nicht bis in unsere Zeit gehalten und ist verdunstet. Auch die beklagte »Disharmonie« wurde nicht aufgelöst, sondern ist verklungen, so ähnlich wie manche andere, die sich auf Nietzsche zurückführt, z. B. der Antagonismus von Künstler und Bürger im »Tonio Kröger« von Thomas Mann. Dass der Mensch ein grundhaft unlogisches Wesen sei, darf man getrost verneinen. Nicht folgerichtig bis in jenes Letzte, in dem doch zumeist auch ein geheimer Fehler steckt, der, wenn man nicht einschreitet, monströse Irrtümer zeitigt, unterwirft er sich doch von Sekunde zu Sekunde den einströmenden Daten und mittelt seine Stellung dazu aus, die so gut wie immer eine sehr vernünftige Näherung ans je Erforderliche mit sich bringt. Ein Individuum ist er halt, in jedem seiner ungezählten Exemplare, dem die Justierung auf das ihn umgebende Allgemeine nicht erlassen wird. Gerechtigkeit ist seine geringste Sorge. Übrigens kann jeder, der sich umhört, feststellen, dass das, was die Leute so übereinander sprechen, abgesehen von einer gewissen spitzen Neugier, die aber selten bösartig wird, einander sehr große Gerechtigkeit widerfahren lassen. Und wo sie aus konventioneller Gedankenlosigkeit ihre Einwände zu Protokoll geben, etwa wenn eine ältere Frau und ein sehr viel jüngerer Mann zusammenfinden, dann genügt meist eine einzige lenkende Bemerkung – Bedenkt, das Glück der beiden hängt auch davon ab, was ihr davon redet! –, um sie zur Besinnung zu bringen. Das Gerechtigkeitsgefühl waltet in den Meisten wie ihr Gleichgewichtssinn: rein subjektiv, aber doch mit einer blitzschnellen praktischen Unfehlbarkeit begabt, die verhindert, dass irgendwas kippt und stürzt. Selbst die Ungerechtigkeit kann man, mit jener erheblichen Lust, die dem Ausübenden von seiner besonderen Kunst gewährt wird, ins Joch der Gerechtigkeit zwingen. Dazu braucht man allerdings Übung. Man kann es lernen, sein Ressentiment als Leitspur zu gebrauchen. Hier stimmt was nicht, das sagt mir meine Nase – doch was? Hier muss man dann vom Geruch zum nachweislichen Augenschein übergehen. Und Gerechtigkeit, auch das sollte nicht vergessen werden, ist nicht alles; in den besten, wichtigsten, fruchtbarsten menschlichen Beziehungen kann ihr immer karges Kalkül vor lauter Großmut gar nicht Fuß fassen. Die Luft um dieses Thema ist nicht so gewitterhaft, wie Nietzsche uns glauben machen will.

Sechster Stich: Morgenröte, Drittes Buch, Nr. 194

» Eitelkeit der Morallehrer . – Der im ganzen geringe Erfolg der Morallehrer hat darin seine Erklärung, dass sie zu viel auf einmal wollten, das heißt, dass sie zu ehrgeizig waren: sie wollten allzugern Vorschriften für alle geben. Dies aber heißt im Unbestimmten schweifen und Reden an die Tiere halten, um sie zu Menschen zu machen: was Wunder, dass die Tiere dies langweilig finden! Man sollte begrenzte Kreise sich aussuchen und für sie die Moral suchen und fördern, also zum Beispiel Reden vor den Wölfen halten, um sie zu Hunden zu machen. Vor allem aber bleibt der große Erfolg immer dem, welcher weder alle, noch begrenzte Kreise, sondern einen erziehen will und gar nicht nach rechts und links ausspäht. Das vorige Jahrhundert ist dem unsern eben dadurch überlegen, dass es in ihm so viele einzeln erzogene Menschen gab, nebst ebenso vielen Erziehern, welche hier die Aufgabe ihres Lebens gefunden hatten – und mit der Aufgabe auch Würde , vor sich und aller anderen ›guten Gesellschaft‹.«

Der Morallehrer als zertifizierte Profession scheint sich heute erledigt zu haben – was natürlich nur bedeutet, dass er auf bedeutend niedrigerem Niveau wiederkehrt. Gäbe es so etwas noch ausdrücklich und anerkanntermaßen, hätten niemals Figuren wie Ulrich Wickert oder Peter Hahne auftretenkönnen. Es setzt sich also ein Niedergang fort, den bereits Nietzsche selbst beklagt, wenn er das achtzehnte Jahrhundert gegen das neunzehnte ausspielt. Um die Moral braucht einem deswegen aber nicht bange zu sein, sie stellt sich überall von selbst ein, wo Menschen nur überhaupt in Gesellschaft leben, also immer, wie die Hormone in der Pubertät. Wahrscheinlich ist der Erfolg der Morallehrer in jeder Epoche extrem gering gewesen. Schopenhauer, von dem Nietzsche anfänglich viel hielt, hatte das behauptet, und zwar gerade angesichts der in diesem Stück glorifizierten Erziehungsverhältnisse von früher: Wer wissen wolle, was es mit der Pädagogik auf sich habe, der schaue sich den berühmtesten Lehrer aller Zeiten an – Seneca – und seinen einzigen Schüler – Nero –, und er wisse genug. Nietzsche, selbst der gröbste, späteste, bleibt immer ein bedingungslos Gläubiger der Pädagogik. Pflanzt euch nicht fort, pflanzt euch hinauf! Dieses Geschäft will er weder der Evolution überlassen, die ihn nichts angeht, noch dem dialektischen Prozess der Geschichte, den er bestreitet – den beiden anderen konkurrierenden Baumschulen des neunzehnten Jahrhunderts –, sondern allein der »Zucht«. Wie sehr er aber, trotz allem, Zucht als Liebe denkt und Liebe als Überredung, das zeigt sein schöner Einfall von der Predigt an die Wölfe, sie möchten Hunde werden. Er will den Lehrer geehrt wissen. Nietzsche hat über die gelacht, die ihn seines großen Schnurrbarts wegen als wilden Mann fürchteten. Diesem Hinweis auf seine getarnte Sanftmut sollte man nachgehen. Nietzsche, der sich wechselnd auf alle möglichen Geister berief, nur um sie wieder zu verwerfen (zum Beispiel Schopenhauer), hat zwei wirkliche dauernde Vorbilder: Konfuzius und den heiligen Franziskus.

Siebter Stich: Jenseits von Gut und Böse: Der freie Geist, Nr. 35 »O Voltaire! O Humanität! O Blödsinn! Mit der ›Wahrheit‹, mit dem Suchen der Wahrheit hat es etwas auf sich; und wenn der Mensch es dabei gar zu menschlich treibt –›il ne cherche le vrai que pour faire le bien‹– ich wette, er findet nichts!«

Das ist zwar knapp und etwas dunkel, hält sich aber zum Glück in seinem Charakter des Stoßseufzers von den Versuchungen des Aphorismus fern. Plötzlich ist für Nietzsche das achtzehnte Jahrhundert nicht mehr kultiviertes Vorbild, dem er nachtrauert, sondern in seinen edelsten, nämlich pädagogischen Bestrebungen »Blödsinn«. Allgemein kann man bei Nietzsche feststellen, dass er eine Art von sukzessiver Dialektik betreibt, jetzt dies und etwas später dessen Gegenteil behauptet, ohne jedoch beides miteinander abzugleichen, ganz als hätte er das Vorherige vergessen. Er erfasst die räumliche Struktur einer Frage, indem er im Lauf der Zeit um sie herumgeht, wobei sie ihm verschiedene Aspekte zukehrt. Es schwächt die Geltung dessen, was er sagt, und macht es fruchtbar für alle, die nach ihm kommen; so verfährt ein guter, doch sehr anspruchsvoller Lehrer, bei dem die Schüler nicht nur die Worte hören, sondern auch das Lächeln sehen sollen, das die Worte einschränkt. Darum geht es auch in diesem kurzen Stück: dass es mit dem Suchen der Wahrheit etwas auf sich habe – was, da legt er sich nicht fest, da bleibt Spielraum. Sein Spott gilt dem Aufklärer Voltaire, der in den Spuren des antiken Tugendoptimismus wandelt, indem er das Gute und das Wahre für schlechterdings identisch erklärt. (Fehlt nur noch das Schöne, und wir hätten die Präambel der alten bayerischen Schulordnung.) Aber es steckt darin mehr Gutartigkeit und Nachsicht, als Nietzsche an dieser Stelle durchblicken lassen möchte. Er weiß schon, wie viel vom Verspotteten er in sich selbst birgt; und darum bleibt sein Urteil über Voltaire (wie über Sokrates) ausgesetzt und angehalten, bis ganz zuletzt, als er Eindeutigkeit mit rabiaten Mitteln herstellen will.

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