Burkhard Müller - Lufthunde

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»Lufthunde«: In Kafkas »Forschungen eines Hundes« sind das die rätselhaften Wesen, die, je für sich und geschieden von den anderen ihres Geschlechts, hoch oben durch die Lüfte treiben und ihrer Tätigkeit nachgehen. Was sie genau tun, ist schwer festzustellen, aber jeder kann ihnen zusehen, wie sie im Äther segeln.
»Lufthunde« heißt dieses Buch, weil es die Geschichte der deutschen literarischen Moderne in einer Reihe von Einzelporträts erzählt. Wichtiger als ihr Zusammenhang und wichtiger auch als das einzelne Werk ist die Gestalt des Autors, wie sie aus seinen Schriften hervortritt. Den Anfang macht Kafka mit seinen Tierparabeln; und es folgen so verschiedene Temperamente wie Musil, Rilke, Morgenstern, Gottfried Benn, auch Wilhelm Busch, unter den Frauen Irmgard Keun und Gertrud Kolmar.
»Nein, wirklich, wir haben es mit einem großen Autor zu tun«, schrieb Michael Maar in der FAZ und bescheinigte dem Autor bei dessen letztem Buch, dass er sich nunmehr »endgültig in der Thronreihe der deutschsprachigen Essayisten niederlassen kann«.

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Diese eminent moralische Kategorie ist aber eindeutig nicht, was die antike Philosophie im Sinn hatte. Schon die entsetzlich gute Laune, die Philosophen wie Sokrates und Seneca versprühen, lenkt den Blick darauf, dass sie es unmöglich mit derselben Dummheit wie Flaubert zu tun haben können. Mit größerem Recht spräche man hier von einer ursprünglichen Unbedarftheit, die zu beheben die Philosophie ja eben antritt. Sie, die bloße »Meinung«, soll in einem pädagogischen Zweistufenprogramm beseitigt werden. Schritt eins: die Haltlosigkeit des bisherigen intellektuellen Zustands wird nachgewiesen, das Falsche beim Namen genannt und damit ausgeräumt. Hier kratzt sich der Gegenstand der philosophischen Pädagogik am Kopf und sagt, »Fürwahr, Sokrates, ich weiß es nicht mehr«. Schritt zwei: anstelle des Falschen tritt nach und nach das Richtige. Die Gesprächsbeiträge des anderen Dialogpartners tendieren nunmehr sehr zur Kürze, denn er hat nur noch zuzustimmen. Danach bedarf es keines weiteren bekehrenden oder umkehrenden Aktes; das Richtige erkennen und es auch tun hält die Antike für wesensgleich. Der Weise, der Gute und der Glückliche sind für sie ein und dieselbe Figur, die der Welt nur mal diese und mal jene Seite ihres Dreiecks zuwendet; und umgekehrt erklärt sie ebenso dumm, bös und unglücklich für kongruent. Die Bosheit zu verdammen und an der Dummheit zu verzweifeln, gibt es gar keinen Grund, denn beide sind ja schon mit sich selbst hinlänglich gestraft, in ihrem Unglück nämlich. »Schaden getan«, wie Nietzsche meint und wie Flaubert es allzugern bewirkt hätte, hat die antike Philosophie der Dummheit nie; sie betrachtete die Dummheit als eine Krankheit und sich als den Arzt, und nicht Schaden tun, sondern heilen war ihre Absicht. Hier liegt der Hauptunterschied zu dem, was die christliche Predigt dem Egoismus zufügen will; denn der Egoismus ist auf seine Weise ja durchaus immer gesund, so gesund wie es der Teufel eben zu sein pflegt, und muss anders, mit anderen Mitteln und anderen Zwecken, bekämpft werden. Das Christentum respektiert das Böse (und eben dieses erkennt sie im Egoismus) als Gegner eigenen Rechts, statt es als bloßen Defekt herausschneiden zu wollen. Die antike Philosophie hingegen (die vor allem eine Ethik ist) verfehlt das Böse kategorial und wird darüber, in ihrem übertrieben optimistischen Menschenbild, selber dumm. Das Christentum erst machte mit der furchtbaren Seichtheit des antiken philosophischen Denkens ein Ende, es zerstieß die Wand dieses allzu heiteren Nichtschwimmerbeckens zum Ozean aus Heil und Verdammnis – nicht ohne bald in seiner eigenen Dummheit zu versacken, wie Nietzsche anzumerken nicht unterlässt. – So also erliegt Nietzsche der vorsprengenden Wucht seiner Assoziationen. Auf Höhe des Wortes »Dummheit« liegt eine dünne Stelle, der Funke springt falsch über, und der Gedankenblitz zündet als Kurzschluss.

Vierter Stich: Jenseits von Gut und Böse: Unsere Tugenden, Nr. 231

»Das Lernen verwandelt uns, es tut das, was alle Ernährung tut, die auch nicht bloß ›erhält‹–: wie der Physiologe weiß. Aber im Grunde von uns, ganz ›da unten‹, gibt es freilich etwas Unbelehrbares, einen Granit von geistigem Fatum, von vorherbestimmter Entscheidung und Antwort auf vorherbestimmte ausgelesene Fragen. Bei jedem kardinalen Probleme redet ein unwandelbares ›das bin ich‹; über Mann und Weib zum Beispiel kann ein Denker nicht umlernen, sondern nur auslernen – nur zu Ende entdecken, was darüber bei ihm ›feststeht‹. Man findet beizeiten gewisse Lösungen von Problemen, die gerade uns starken Glauben machen; vielleicht nennt man sie fürderhin seine ›Überzeugungen‹. Später – sieht man in ihnen nur Fußtapfen zur Selbsterkenntnis, Wegweiser zum Probleme, das wir sind – richtiger, zur großen Dummheit, die wir sind, zu unserm geistigen Fatum, zum Unbelehrbaren ganz ›da unten‹. – Auf diese reichliche Artigkeit hin, wie ich sie eben gegen mich selbst begangen habe, wird es mir vielleicht eher schon gestattet sein, über das ›Weib an sich‹ einige Wahrheiten herauszusagen: gesetzt, dass man es von vornherein nunmehr weiß, wie sehr es eben nur – meine Wahrheiten sind.«

Ein eigentümlich umwegiger Text. Man weiß erst gar nicht, was er will, merkt bloß etwas befremdet, wie hier das Pompöse – »Fatum«, »Granit«, »vorherbestimmt«, »ausgelesene Fragen«, »kardinales Problem« – Hand in Hand geht mit dem Herumdrucksen des »ganz ›da unten‹«, dieses auch noch, zum Zeichen des schlechten Gewissens, in Gänsefüßchen gesetzt. (Es gibt hier allgemein sehr viele Gänsefüßchen.) Das, worum es sich in Wahrheit handelt, wird in einem Understatement, das an Falschmeldung grenzt, mit einem ›zum Beispiel‹ hereinbugsiert. Das Weib also. Seine Angst davor und sein Unglück, das daraus entspringt, kann Nietzsche nicht zugeben, am allerwenigsten aber seinen Mangel an Erfahrung mit diesem imaginierten Wesen. Es ist lustig und traurig zugleich, wie er hier zwischen Umlernen und Auslernen den Unterschied macht, wo er doch kaum zum Anlernen gekommen ist, und mit was für miserablen Exemplaren: seiner Mutter, seiner Schwester und der schlimmsten von allen, der Sammlerin bemerkenswerter Männer Andreas-Salomé. Auf dieses vampirische Terzett lassen sich keine verallgemeinerungsfähigen Aussagen gründen. Aber um sein höchstpersönliches Pech zu maskieren, muss Nietzsche tun, als hätte er unter keinen Umständen was Besseres gekriegt, weil die anderen nämlich auch alle so sind. Die Brüste sind ihm viel zu sauer. Er flüchtet sich, was er mit seiner feinen Psychologie bei einem anderen sofort durchschaut hätte, aus der Scham in den Trotz. Wenn einer mit dieser Geste sagt »meine Wahrheiten«, dann kann man Gift drauf nehmen, dass es noch nicht mal seine Wahrheiten sind. Interessant ist die Sache mit den Fußtapfen zur Selbsterkenntnis, die man nach einiger Lebenszeit aus seinen verschiedenen und scheinbar ganz getrennt-zufälligen Erlebnissen lesen kann. Damit dieser Gedanke aber Wahrheit erlangte, müsste er mit mehr Freiheit entwickelt sein und nicht so völlig aus dem unfruchtbaren Geist der Defensive.

Fünfter Stich: Menschliches, Allzumenschliches,

Erster Band: Von den ersten und letzten Dingen, Nr. 32

» Ungerechtsein notwendig . – Alle Urteile über den Wert des Lebens sind unlogisch entwickelt und deshalb ungerecht. Die Unreinheit des Urteils liegt erstens in der Art, wie das Material vorliegt, nämlich sehr unvollständig, zweitens in der Art, wie daraus die Summe gebildet wird, und drittens darin, dass jedes einzelne Stück des Materials wieder das Resultat unreinen Erkennens ist, und zwar dies mit voller Notwendigkeit. Keine Erfahrung zum Beispiel über einen Menschen, stünde er uns auch noch so nah, kann vollständig sein, so dass wir ein logisches Recht zu einer Gesamtabschätzung desselben hätten; alle Schätzungen sind voreilig und müssen es sein. Endlich ist das Maß, womit wir messen, unser Wesen, keine unabänderliche Größe, wir haben Stimmungen und Schwankungen, und doch müssten wir uns selbst als ein festes Maß kennen, um das Verhältnis irgendeiner Sache zu uns gerecht abzuschätzen. Vielleicht wird aus alledem folgen, dass man gar nicht urteilen sollte; wenn man aber nur leben könnte ohne abzuschätzen, ohne Abneigung und Zuneigung zu haben! – denn alles Abgeneigtsein hängt mit einer Schätzung zusammen, ebenso alles Geneigtsein. Ein Trieb zu etwas oder von etwas weg, ohne ein Gefühl davon, dass man das Förderliche wolle, dem Schädlichen ausweiche, ein Trieb ohne eine Art von erkennender Abschätzung über den Wert des Zieles existiert beim Menschen nicht. Wir sind von vornherein unlogische und daher ungerechte Wesen und können dies erkennen : dies ist eine der größten und unauflösbarsten Disharmonien des Daseins.«

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