»Das letzte Mal, als mir rundherum warm wurde«, sagte Stell, »war es eine Hitzewallung.« Sie schob sich mit dem Zeigefinger den Hut hoch. »Mist, ich weiß auch nicht, warum es mir so schwerfällt, zu sagen, was ich sagen will. Ihr zwei habt mir gefehlt, und das ist ’ne Tatsache. Auch wenn ihr mich letzten Sommer fast umgebracht habt vor Sorge.«
»Das tut mir wirklich leid«, sagte Gwen. »Ich –«
Stell unterbrach sie. »Ich will keine Entschuldigungen. Hoffe nur, dass ihr nicht vorhabt, mich dieses Jahr wieder solche Ängste ausstehen zu lassen.«
»Ich werd versuchen, Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen«, sagte Gwen.
»Um dich bin ich gar nicht so besorgt.«
Stoner sah sie an. »Ich?«
»Ja, du.«
»In was für Schwierigkeiten könnte ich hier draußen schon kommen?«
Stell schüttelte den Kopf. »Du wirst schon was finden. Ich traue dir viel zu.«
Das Land stieg sanft an. In der Ferne schmiegte sich eine Bergkette dicht an die Erde. Kleine, graugrüne Büsche standen verstreut wie grasende Schafe. Der Himmel war von einem blassen, verwaschenen Blau.
Es ist schön, dachte Stoner.
Schön und grausam.
***
Großmutter Adlerin schwebte hoch über dem Colorado-Plateau und ließ sich vom Wind tragen. Ihre Zeit war nah. Seit Tagen schon hörte sie Masaus sanfte Stimme, die sie zu ihren Ahnen heimrief. Die Sonne tat ihren müden Knochen gut, diesen Knochen, in denen die Winterkälte saß und sie selbst an brüllend heißen Sommertagen nicht verließ. Sie hatte ihr letztes Niman Kachina erlebt, mit den Tänzen, den Zeremonien und der Heimkehr der Hopi-Geister zu den Heiligen Bergen. Bald würde auch sie sich zur Ruhe legen und wieder mit den Geistern ihrer abgeschlachteten Jungen vereint sein. Ihre Knochen würden zu Pfeifen werden, auf denen ein Dineh-Kind spielen würde. Ihre Federn, ihre langen, schönen Federn, die das Lied des Windes sangen, würde man sammeln für Gebetsstäbe, um die Bitten des Stammes über die Regenbogenbrücke zu den Ohren der Geister zu tragen. Der Gedanke gefiel ihr.
Nun nahm sie Abschied. Abschied von den weiten Schluchten und Hügeln und Mesas ihrer irdischen Heimat. Abschied von den tiefen Felseinschnitten, in denen während der Frühlingsregenfälle schokoladenbraune Wassermassen schäumten. Abschied von den hohen Sandsteingipfeln, den windumbrausten Bergen, in denen sie ihre Nester gebaut und ihre Jungen aufgezogen und sich mit ihrem faulen, übellaunigen Gefährten gezankt hatte.
Sie lächelte vor sich hin, als sie an den Alten Adler dachte, ihre Streitigkeiten und ihre Paarungen, ihre Jagdflüge, das Leuchten des Sonnenlichts zwischen seinen Flügelspitzen, seine starke Gegenwart in den Stunden der Dunkelheit. Aber sie erinnerte sich auch an das weißblaue Aufblitzen aus dem Gewehr des Wilderers, das den schönen Körper zerschmetterte, und daran, wie seine Federn durch die stille Luft zu Boden sanken, an das Echo des Schusses, der ihr Herz zerspringen ließ, an die langen, schweigenden Jahre, die folgten.
Sie würde ihn bald sehen, ihren Alten, und sie würden wieder zur Sonne aufsteigen, emporgehoben von den Geistern der Winde, um zwischen den Wolkenleuten zu spielen. Wieder würden sie sich paaren und streiten. Sie hatte die Paarungen vermisst, aber die Streitereien hatten ihr noch mehr gefehlt.
Der Wind-Fluss trug sie über Indianerland, über zusammengedrängte Lehmhütten und kleine, aus zwei Räumen bestehende Farmhäuser, über Wohnwagen-Abstellplätze und etwas abseits stehende hogans , über uralte Ruinen. Er trug sie über Pfirsichpflanzungen und dunkelgrüne Reihen von Hopimais. Über die misshandelten Windungen des San Juan River, die scharfen Biegungen und tief eingeschnittenen Schluchten des Colorado. Über die Abraumhalden der Uranminen, die die furchtbare Graue Krankheit brachten. Über die schwarzgefiederten Kernkraftwerke, die die heiligen Vier Ecken entweihten.
Ihr Herz fühlte ein Ziehen, und sie wandte ihre Aufmerksamkeit nach Süden. Neugierig flog sie langsam über das Dorf-das-seinen-Namen-vergessen-hat, vorbei an dem rauen Schiefer der Long Mesa, vorbei an der Dineh-Rinne und am Big Tewa, über dem die Sonne aufgeht. Die Handelsstation von Spirit Weils lag noch in der Nachmittagshitze. Ihre empfindlichen Ohren nahmen den grölenden Fernseher aus Larch Begays Texaco-Tankstelle wahr.
Alles schien wie immer.
Sie zog einen Bogen nach Westen über die Farbige Wüste, auf der Suche nach … sie war nicht sicher, wonach. Ihre Augen nahmen eine schwache Bewegung im Schatten eines Felsens wahr. Klapperschlange. Eine Delikatesse, aber sie hatte nicht mehr oft Hunger. Glück gehabt, Bruder Schlange, wohl unvorsichtig geworden in der Hitze. Sie stieß einen Schrei aus, um ihn in seine Grenzen zu weisen, und zog einen noch größeren Kreis.
Als sie wieder die alte Stadt überflog, erspähte sie etwas, das ihr vorher entgangen war. Ein Zweibein, eine alte Indianerin. Sie hatte noch nie eine so alte Frau gesehen. Älter als die Zedern. Älter als die verfallene Stadt. Vielleicht sogar älter als die Long Mesa.
Zweibein schaute nach Süden, wartete.
Adlerin glitt etwas näher heran. Vorsicht, es könnte eine Falle sein, warnte ihre Erfahrung. Vielleicht ist das alte Zweibein auf der Jagd nach schönen, frischen Federn für ihre Gebetsstäbe.
Ein leichtes Schaudern durchfuhr sie. In einer Zeremonie geopfert zu werden mag eine Ehre sein, ein Vergnügen ist es jedenfalls nicht.
Die Neugier nagte an ihrem Misstrauen. Sie kreiste noch einmal.
Zweibein sah auf. Ihre Blicke trafen sich.
»Ya-ta-hey, Großmutter Kwahu.« Zweibein sandte ihr Gedanken zu.
»Ya-ta-hey, Großmutter.« Adlerin erwiderte den Navajo-Gruß, hielt aber sicheren Abstand.
»Etwas wird hier geschehen«, sandte Zweibein. »Fühlst du es?«
»Alles, was ich dieser Tage fühle, ist der Winter in meinen Knochen. Ich halte einen Zwiegesang mit Masau seit der Zeit des Saatmondes.«
Zweibein brummte Zustimmung. »Dies hier wird mein letzter Kampf und meine Heimkehr.«
»Kampf?« Großmutter Kwahu schwebte in die Höhe und ließ sich auf einem Windstoß wieder hinabgleiten. »Alte Frau, dein Verstand ist schon heimgekehrt. Ein Sack voll morscher Knochen, wie du es bist, gibt einen armseligen Speer zum Kampf.«
»So oder so«, sagte Zweibein, »vielleicht hat diese alte Welt doch noch eine Überraschung für dich auf Lager.«
»Oder noch eine Enttäuschung für dich.« Adlerin wandte sich zum Aufbruch.
Die alte Frau hob eine Hand zum Abschied. »Wenn du deinen Freund Masau siehst, sag ihm, dass Siyamtiwa zu ihm kommen wird, wenn das hier vorbei ist.«
Sie schnaubte entrüstet. »Der Wächter der Unterwelt nimmt von abgerissenen Indianerinnen keine Anordnungen entgegen.«
»Der Wächter der Unterwelt ist Siyamtiwa noch nicht begegnet.«
Großmutter Adlerin schlug mit ihren arthritischen Flügeln und zog eine Schau ab, indem sie an einem Sonnenstrahl hochflog.
Der Austausch von Beleidigungen hatte sie verjüngt. Vielleicht lässt mich Masau doch noch ein Weilchen länger bleiben, dachte sie und schlug einen Salto. Ich würde gerne noch einen letzten Kampf erleben.
In ihrer Aufregung übersah sie beinahe den Lieferwagen, der in einer Staubwolke die Reservationsgrenze überquerte.
***
Sie spürte es ungefähr ab dem Moment, als sie an dem von Kugeln durchlöcherten Schild vorbeifuhren, das den Rand der Navajo-Reservation kennzeichnete:
KEIN ALKOHOL
KEINE SCHUSSWAFFEN
HIER GILT STAMMESGESETZ
ANWEISUNGEN DER STAMMESPOLIZEI SIND ZU BEFOLGEN
Eine merkwürdige, gebündelte Ruhelosigkeit, als ob all ihre Nervenimpulse sich in ihrem Magen sammelten.
Es war wahrscheinlich eine verspätete Reaktion auf den Flug, sieben Stunden ›Sardine spezial‹, eingezwängt in einen Sitz, der offenbar für Schoßtiere konstruiert war.
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