Während sie schrieb, gestattete sich Kappe einen letzten Blick auf ihre Waden. Weshalb es eine solche Frau aus Frohnau ausgerechnet in die übelbeleumdete Potsdamer Straße zog, war ihm schleierhaft. Zuvorkommend geleitete er sie durch das Vorzimmer und verabschiedete sie mit einer gemessenen Verbeugung.
Als er sich umwandte, blickte er in die grinsenden Gesichter seiner Kollegen Günter Kynast und Jürgen Rückert. Kynast, allemal der Dreistere von beiden, verkniff es sich nicht einmal, anzüglich das Gesicht zu verziehen und so etwas wie «Glücklicher Witwentröster» zu murmeln.
Das war selbst Rückert zu viel. «Wenn du mal im Dienst erschossen wirst», bot er Kynast hinterhältig an, «übernehme ich die Tröstung sämtlicher deiner Flammen. Einverstanden?»
Kynast salutierte militärisch. «Einverstanden, Herr Oberleutnant!» Er liebte es, Rückerts Hang zum Militärischen zu karikieren. Lachend fügte er hinzu: «Aber schraub deine Hoffnungen nicht zu hoch! Mehr als ’ne Woche gibt dir Keunitz bestimmt nicht frei.»
Kriminalrat Keunitz war der Leiter des Referats M, zuständig für alle Tötungs- und Sittlichkeitsdelikte, und damit ihr Vorgesetzter. Otto Kappe wusste, wie der zu nehmen war, und kam einigermaßen gut mit ihm aus. An Günter Kynast aus Neukölln, von Otto gern als James Dean von Rixdorf tituliert, missfiel ihm dagegen die amerikanischen Filmschauspielern abgeguckte Lässigkeit. Seit Lilli Lenné, die jugendliche Schönheit der Truppe, zum Lehrgang in Westdeutschland weilte, artete sein Ton ein wenig aus.
«Euch steigen wohl die linden Maienlüfte zu Kopf», knurrte Kappe. Er war müde und wurde das Gefühl nicht los, immer noch wie ein Scheiterhaufen zu riechen. Dabei hatte er am Morgen länger als gewöhnlich geduscht. «Habt ihr nichts zu tun?»
Kynast zog den sorgfältig frisierten Kopf ein. «Angelwetter, wie?», sagte er spöttisch und spielte damit auf Otto Kappes Gewohnheit an, sie in ruhigen Zeiten mit den «nassen Fischen», den ungelösten Mordfällen der Vergangenheit, zu beschäftigen.
Kappe ging nicht darauf ein. «Ich mache jedenfalls Schluss für heute. Hab mir die ganze Nacht da draußen in Frohnau um die Ohren geschlagen.» Und außerdem hatte er noch Galgenberg zur Rettungsstelle begleitet, in der sie beide allein schon durch den sie umgebenden Brandgeruch aufgefallen waren. Galgenberg hatten sie im Krankenhaus gleich dabehalten. Diagnose: Knöchelbruch.
«Da wartet noch diese Frau …», sagte Rückert. «Ich hatte das Gefühl, sie möchte eher mit einem etwas gesetzteren Kollegen reden.»
«Was denn für eine Frau?», fragte Kappe ungehalten. Die Höflichkeit erforderte es eigentlich, dass er jetzt noch seinen verunfallten Mitarbeiter im Krankenhaus besuchte.
«Sie sitzt draußen. Kommt aus dem Osten und vermisst ihre Tochter. Sie ist sich ganz sicher, dass der was Schreckliches passiert ist. Die Kollegen vom Revier in Charlottenburg haben sie hergebracht.»
«Und was habe ich damit zu tun? Für solche Fälle sind die da oben zuständig.» Aufgebracht wies Kappe zur Decke. Im obersten Stockwerk saßen die Kollegen, die sich um vermisste Personen kümmerten.
Rückert ließ sich nicht beirren. «Die Tochter wohnt in der Wundtstraße. Das ist doch gleich bei dir um die Ecke.»
«Seid ihr nicht ganz bei Trost?», fauchte Kappe. «Übernimmst du neuerdings nur noch Fälle, wenn die Leiche aus Siemensstadt stammt?»
Dort wohnte Rückert, seit er vor beinahe zehn Jahren aus dem Osten gekommen war. Jetzt wand er sich wie ein Aal. «Red doch wenigstens mal mit der Frau! Ich hab nicht viel aus ihr rausgekriegt.»
CHARLOTTE WEIDNER hatte in ihrem 49-jährigen Leben so manches mitgemacht und geriet nicht leicht in Panik. Im Augenblick aber fühlte sie sich dicht davor. Verzweiflung hätten andere es wohl genannt, doch dieses Gefühl war ihr in härteren Zeiten abhandengekommen. Irgendwie ging es immer weiter, das wusste sie.
Ihre bösen Vorahnungen hatten sie nicht getrogen, dessen war sie sicher. Ihr Herz flatterte, und sie fühlte sich, als drohe die innere Unruhe sie zu zerreißen. Worauf hatte sie sich eingelassen? Aber was blieb ihr anderes übrig? Die Tochter, die wahrscheinlich nicht einmal ahnte, was sie der Mutter bedeutete, konnte, durfte nicht einfach verschwunden sein!
Der unangenehme Auftritt dieses Losinski vor dem Haus hatte ihre schlimmsten Vermutungen bestätigt. Der Mensch hatte etwas zu verbergen. Man musste nicht über so viele böse Erfahrungen verfügen wie Charlotte, um dem das schlechte Gewissen anzumerken. Die hastige Abfahrt mit dem bonbonroten Fahrzeug hatte einer Flucht geglichen.
In ihrer Ratlosigkeit war Charlotte in die Fahrschule gegangen. Die junge Frau dort kannte Elke tatsächlich, wusste aber nichts Beruhigendes mitzuteilen. Auch sie hatte Elke seit Tagen, vielleicht seit Wochen nicht mehr gesehen, dafür aber andere junge Frauen in Losinskis Begleitung bemerkt. «Bei denen herrscht ja immer reger Verkehr», sagte sie. «Studenten eben. Er soll so ’ne Art Assistent an der Uni sein. Hat sich hier vor dem Haus auch mal mit einem geprügelt. Wegen Politik, hieß es. Ich war nicht dabei.»
Als Charlotte den Laden verließ, war sie der Nachbarin aus dem ersten Stock begegnet, an deren Namen sie sich nicht einmal mehr erinnerte. Die hatte sie sofort erkannt und auf sie eingeschwatzt, als wären sie die dicksten Freundinnen gewesen. «Wo ist denn Ihre Tochter abgeblieben?», lautete die erste Frage. «Die ist plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Weg. Von einem Tag zum andern! Oder hat sie zu Mama heimgefunden, nach all dem Theater hier? Kann einem ja leid tun um das junge Blut, wenn man so was sieht.»
Und bevor Charlotte überhaupt zu einer Frage anzusetzen vermochte, erfuhr sie ausschließlich Beunruhigendes über Elkes Lebenswandel und ihren Umgang mit diesen schrecklichen Menschen, die sich als Studenten ausgaben. «Was die studieren, möchte unsereins wissen! Nichts Vernünftiges jedenfalls. Rauchen, trinken, singen, nachts die Musik aufdrehen, bis einem das Trommelfell platzt. Was waren das für friedliche Zeiten, als Sie und Ihr Mann noch hier wohnten! Wie geht’s ihm überhaupt? Sah ja immer ’n bisschen blass aus, der Gute. Aber ein feiner Mensch ist er. Auf so einen Schwiegersohn kann der dankend verzichten.»
Endlich gelang es Charlotte, den Redefluss der Frau zu unterbrechen. «Wann haben Sie Elke zum letzten Mal gesehen?»
Die Nachbarin riss die Augen unnatürlich weit auf. «Zum letzten Mal?», fragte sie erschrocken. «Wollen Sie damit sagen …»
Beinahe fassungslos über diese Reaktion, schüttelte Charlotte heftig den Kopf. «Nein, nein, ich …»
Die Frau war von der einmal aufgenommenen Spur nicht mehr abzubringen. «Jetzt fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Der hat ihr was angetan! Wie der schon immer guckt, so scheel, und kann einem nicht in die Augen blicken. Wenn einer Dreck am Stecken hat, dann der! Weiß man denn, was der mit seinem komischen Roller alles abtransportiert? Ein paarmal hat er das Ding beladen wie einen Lkw. Und Ihre Tochter, diese zarte Person, das ist ja nur so ein Bündel.» Ihre Hände zeigten ein handliches Paket.
Charlotte hielt eine Hand der Frau fest. «Nein», stieß sie entsetzt hervor, «das ist unmöglich!»
«Na, wenn Sie meinen.» Achselzuckend wandte sich die Frau ab. «Wenn es um meine Tochter ginge, wäre ich jedenfalls längst bei der Polizei. Das Revier ist immer noch gleich um die Ecke.»
Und so war Charlotte tatsächlich entgegen aller politischen Einsicht und Vernunft auf dem Revier gelandet und dort auf einen Beamten gestoßen, der vermutlich seit Jahrzehnten hinter dem abgestoßenen Schreibtisch hockte und sich seine eigenen Gedanken zu machen schien und sich der politisch verdächtigen Frau vom Ostrundfunk womöglich besann. Ihr fiel der eigenartige Zug um seine Augen auf, nachdem sie sich als Charlotte Menzel vorgestellt, knapp ihr Anliegen samt Elkes Adresse vorgetragen und auf seine Frage hin behauptet hatte, den eigenen Personalausweis leider nicht bei sich zu haben. Natürlich fragte er nach ihrer Adresse. Widerstrebend musste sie zugeben, im Osten zu wohnen, wo man von ihren Erkundigungen besser nichts erfahren sollte.
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