„So ist das also“, sagte Niccolò unzufrieden mit der Antwort. „Und das soll ich glauben?“
„Nun“, sagte Balanca und wiegte bedenklich den Kopf, „es ist wohl nicht ganz so. Aber wie es auch immer ist mit der Liebe, Kollege, glaub mir, ohne sie wäre das Leben wohl eine verdammt schlechte Erfindung.“
„Ich weiß ja nicht“, sagte Niccolò enttäuscht. Er hatte von seinem Großvater, der auf fast alle Fragen eine Antwort wusste, mehr erwartet.
Balanca nickte, und wie immer, wenn er eine seiner Zirkusgeschichten zum Besten gab, verfiel er in den Tonfall eines Märchenerzählers: „Ich will dir die Geschichte von dem Ballettmädchen Lisa Kowalke und dem Dompteur Fritz Müller erzählen.“
Niccolò zog die Knie zur Brust und legte seinen Kopf seitlich darauf. Um ihn herum schwatzte die Stadt, aus dem gleichmäßig tuckernden Motor der Kehrwalze kroch Wärme in ihn, und es roch gut nach Maschinenöl.
„Das Ballettmädchen Lisa Kowalke tanzte beim Zirkus Ballo . Mit zwölf anderen Mädchen führte es in den Umbaupausen den berühmten Cancan und andere Tänze auf. Die Tänzerinnen waren für das Sommerprogramm engagiert wurden, weil der niederländische Clown Ätsch wegen Krankheit die Tournee abgesagt hatte.
Als Höhepunkt des Programms war nach der großen Pause die Dressur eines Indischen Elefanten zu sehen. Der Dompteur, Fritz Müller, ein ehemaliger Bäckerlehrling, der vor seinem jähzornigen Vater zum Zirkus geflüchtet war, hatte sich diese Darbietung in jahrelanger harter Arbeit aufgebaut. Er nannte sich nach dem elefantenköpfigen indischen Gott Ganescha und sah in seinem Kostüm wie ein echter Maharadscha aus.
Aber Lisa Kowalke, die davon träumte, einmal im Operettenpalast zu singen und zu tanzen, war auch nicht ohne. Wenn sie geschminkt war, das Scheinwerferlicht über sie glitt und sie sich im Schwanenkostüm anmutig bewegte, sah sie aus wie eine Elfe.
Immer wieder zog es Lisa in die Nähe von Ganeschas Elefant Assan . Der Koloss ließ es sich gern gefallen, dass die kleine Frau ihn streichelte und mit Leckereien verwöhnte. Bald tönten morgens und abends seine Trompetenrufe durch das Wagenlager. Und Assan gab erst Ruhe, wenn Lisa kam und seinen Rüssel tätschelte.
Nun, es wunderte keinen, dass Lisa und Ganescha sich ineinander verliebten. Es schien einfach alles zu passen zwischen den beiden. Zwischen den dreien ist wohl richtiger. Alle Artisten wünschten ihnen alles Glück der Welt.“
Balanca sah Niccolò prüfend an, dann lächelte er, umschloss einen Moment lang mit seiner Pranke die Hand Niccolòs und sprach gelassen weiter.
„Ganeschas Attraktion war also Assan, der Sprechende Elefant . Angeblich sollte er das letzte Exemplar der legendären Weißen Elefanten sein. Was aber kaum einer wusste: der tonnenschwere Dickhäuter wurde von Ganescha bei Nacht mit einer speziell dafür angefertigten Farbe weiß angestrichen.
Nun, Ganescha nahm Lisa als Assistentin in seine Nummer auf. Das Publikum fand sie reizend, vor allem aber wohl Assan, der sich ebenso unsterblich in die kleine Lisa verliebt hatte wie sein Herr. Der sonst sprichwörtlich dickköpfige Elefant, wurde in Lisas Nähe zahm und folgsam wie ein Schoßhündchen. Es war einfach wunderbar anzusehen, wie der verliebte Tierriese mit seinem mächtigen Rüssel zärtlich das Gesicht des Mädchens abtaste. Wenn sie ihn dann auf das haarige Rüssellende küsste, öffnete Assan sein Maul, ließ ihren Kopf darin verschwinden und trug sie, sozusagen auf Zehenspitzen, durch die Manege. Unter dem rauschenden Beifall des Publikums setzte er sie dann wieder ab. Und Lisa verwöhnte ihren verliebten Dickhäuter mit Zuckerstücken und Pralinen.“
„Ja und?“, fragte Niccolò gespannt, als sein Großvater nicht weiter erzählte. „Ist das etwa schon der Schluss?“
„Geschichten haben nie ein Ende“, antwortete Balanca ausweichend. „Hier sind alle noch glücklich. Aber wer weiß, wie es später aussieht.“
„Ich will es aber wissen“, sagte Niccolò. „Man kann doch nicht einfach mitten drin aufhören. Das ist gemein.“
„Du hast ja Recht“, stimmte der Großvater zu. „Also, weiter im Text: Ganescha gegenüber hatte sich Assan zusehends verändert. Zuerst begegnete der Elefant seinen Herrn mit Gleichgültigkeit und dann mit Abweisung. Von Ganescha nahm Assan keine Kommandos mehr entgegen. Aber Lisa brauchte nur mit dem Finger zu schnippen und schon lernte der Dickhäuter den schwierigsten Trick. Ganescha war zwar nicht erfreut von Assans Verhalten, aber um des lieben Friedens willen, überließ er seiner Freundin die Vorführung und assistierte nur noch.
Aber der Elefantenbulle wollte nun Ganescha gar nicht mehr in der Nähe haben. Wenn Ganescha sich Lisa nur näherte, schlug Assan mit den Ohren und stieß wütende Trompetenstöße aus.
Ganescha und Lisa berieten, was zu tun sei. Sie wollten nicht, dass der Elefant, der sie zusammengebracht hatte, sie nun auseinander brächte. Sie legten ihr ganzes Geld zusammen, borgten sich noch einen Großteil dazu und kauften die wunderschöne indische Elefantendame Calcutta . Sie führten sie Assan zu und hofften, dass der Elefantenbulle sich in die imposante Schöne verlieben würde. Aber so sehr Calcutta Assan auch umschmeichelte, so wenig interessierte der sich für sie. Seine ganze Liebe galt nach wie vor Lisa.“
Balanca legte eine Pause ein. Niccolò wusste nicht, ob sein Großvater nur die Spannung erhöhen wollte oder aber Zeit brauchte, um Licht in die Vergangenheit zu bringe.“
„Erzähle doch weiter“, drängte Niccolò. „Bitte.“
„Nun, die Saison war bald zu Ende. Ganescha meinte, Assan müsse Lisa wieder entwöhnt werden. Lisa solle sich unters Publikum setzen und ihm die Vorführung überlassen. Was früher geklappt hätte, das würde auch heute möglich sein.
Zur Abendvorstellung setzte sich Lisa nur widerstrebend unters Publikum und erwartete angespannt den Auftritt Ganeschas und Assans. Sie hatte vorher dem Elefantenbullen, der erkältet war, nach dem alten Zirkusrezept Elefantenkur , einen Eimer Tee gekocht, der zur Hälfte mit Weinbrand vermischt war, und genüsslich schlürfen lassen. Dann war sie mit schlechtem Gewissen davongeschlichen.
Als Ganescha dann Assan in die Manege führte, umschloss Lisa ganz fest ihre Daumen. Der Elefant schüttelte auf Ganeschas Kommandos nur den gewaltigen Schädel. Seine hellen Trompetenstöße riefen immer dringender nach Lisa.
Das Publikum begann zu lachen. Ganescha wurde unsicher und schließlich wütend. Als er mit dem Eisenpickel, den er sonst nie benutzt hatte, dem Bullen einen Stoß versetzte, schrie dieser auf. Er warf Ganescha mit einem Schlenker seines Rüssels in den Sand und stieg wie ein Pferd auf die Hinterbeine, um seinen Herrn zu zertrampeln.
Die Zuschauer waren aufgesprungen und standen wie versteinert – jeden Augenblick musste der wütende Elefantenbulle den Mann unter sich zermalmen. Da stürzte Lisa in die Manege und sprang mit hochgereckten Armen zwischen Assan und Ganescha. Der Elefant setzte nun mit seinen Vorderfüßen behutsam auf dem Manegensand auf. Er grunzte vor Freude, sein Rüssel umspielte zärtlich Lisas Körper, dann tastete er über ihr Gesicht.
Nun, Lisa brachte die Vorstellung problemlos zu Ende. Das Publikum dankte mit donnerndem Applaus. Hinterher sagten die Leute, dass alles doch nur Show gewesen sei.“
Niccolò atmete erleichtert auf, doch dann sagte er: „Aber das ist doch immer noch nicht der Schluss der Geschichte.“
„Du hast es wieder einmal getroffen, Kollege“, sagte der Großvater schmunzelnd. „Du willst also wissen, wie es wirklich ist.“
„Das will ich wissen“, verlangte Niccolò, obwohl er ahnte, dass sein Wunsch nach einem glücklichen Ende sich nicht erfüllen würde.
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