1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Zu spät bemerkte er Großvaters warnendem Blick, es rutschte ihm das Dümmste heraus, was man seiner Mutter in solcher Situation antworten kann.
„Ich?“
„Ja du! Schiele isch vielleichd? Oder schbresche ich edwa mid dem Bräsidenden von Ameriga? Vielleichd gar mit dem Babsd oder dem Dalai-Lahma?!“
Schlagartig kehrte der Weltschmerz in Niccolò zurück. Ihm fiel wieder ein, wie seine Hypnoseversuche und Komplimente bei Paula Klette versagt hatten. Das Selbstmitleid überfiel ihn, er sagte traurig: „Du sprichst nur mit mir, Manuela. Rege dich bitte nicht so auf, Mama.“
„Aber ich will mich aufregen!“, rief die Mutter, die nun wieder Hochdeutsch und zwischendrin auch Italienisch sprach, das sie seit ein paar Monaten zusammen mit Niccolò lernte. „Das kann mir schließlich niemand verbieten! Grazie a Dio viviamo finalmente in una democrazia!“
„Was höre ich denn da?“ Freddy Haubentauchers Mund bildete ein tennisballgroßes Loch, in dessen Tiefe das rote Zäpfchen zuckte.
„Ich sagte: Gott sei Dank leben wir endlich in einer Demokratie! Mamma mia, der Junge sieht aus, als käme er aus einem verdammten Krieg zurück!“
„Wir haben nur ein bisschen Fußball gespielt. Nonè successo nulla, mamma. So gut wie gar nichts ist passiert.“
Nun sprach auch Niccolò italienisch, denn damit konnte er die Mutter milder stimmen. Manuela schwärmte von Italien. Wenn sie einmal mit ihrem Brillenladen genug Geld verdient hätte, wollte sie mit ihrer Familie nach Italien ziehen und für immer dort leben.
„Zeig mal her, Bambino. Nun hab dich nicht so. Tut weh, was. So was kommt doch nicht von eurer Kickerei. Du hast dich wieder verprügeln lassen, du dummer Junge. Für wen hast du denn diesmal den Kopf hingehalten?“
„Beruhige dich doch, Tochter“, sagte Balanca. „Er lebt ja noch. Es ist ja nichts weiter passiert. Das heilt alles wieder.“
„Nichts passiert?“, rief Manuela empört. „An dem Jungen ist kaum noch etwas ganz! Da redest du von nichts passiert! Ich habe dir doch gesagt, Niccolò – was habe ich dir gesagt? Sag es, los doch!“
Niccolò antwortete widerstrebend: „Du hast gesagt, wenn ich einen Schlag bekomme, soll ich zweimal zurückschlagen.“
„Und?“
„Und wenn mir einer gegen den Fuß tritt, soll ich ihm zweimal gegen das Schienbein treten.“
„Brutal. Das ist ja barbarisch!“ Freddy Haubentaucher stieß mehrmals hinter vorgehaltener Hand auf.
Manuela rüttelte Niccolò an den Schultern, und sie führte ihm energisch, wenn auch wenig geschickt vor, wie er sich zu wehren hatte. „Du weißt doch, wie es geht! Warum tust du es dann nicht? Es ist eine harte Zeit. Wer nicht gewinnt, der ist der Verlierer. Wann begreifst du das endlich!“
Auf ihrer Stirn standen winzige Schweißtropfen, ihre Lippen waren schmal gespannt und die Augen sprühten grün. „Nun antworte endlich! Sag mir, ob du es begriffen hast!“
Niccolò zwang sich zu nicken. „Aber ...“
„Es gibt kein Aber !“, rief Manuela. „Es gibt nur ein Da musst du durch ! Was denkst denn du, wie ich in meinem Geschäft zu kämpfen habe. Gleich um die nächste Straßenecke ist noch ein Optiker. Ein paar Straßen weiter ein dritter. Die breiten sich aus wie Wühlmäuse. Jeder nennt sich die Nummer eins und tut so, als hätte er was zu verschenken. Sonnenbrillen und anderen Brillenschrott bekommst du jetzt auch noch in jedem Supermarkt und an jedem Kiosk zu kaufen. Und da hältst du still, wenn andere dich grün und blau prügeln!“
Niccolò schüttelte den Kopf und sagte: „Ja ...“
„Was, ja? Nun rede endlich, Junge! Sage mir, wer dich so zugerichtet hat?“
Balanca zog Niccolò von seiner Tochter weg und sagte ruhig: „Du hast das gleiche Temperament wie deine Mutter, Manuela. Die gute Hanni, sie verlor auch so schnell die Beherrschung. Aber nur die Ruhe bringt’s, Tochter. Mit Gewalt geht schließlich alles kaputt.“
„Nun komm du mir nur nicht mit deinen gesammelten Lebensweisheiten, Vater“, entgegnete Manuela. „Ich muss mir jeden Tag von meiner verehrten Kundschaft jede Menge schlaue Sprüche anhören.“
Balancas Einwurf und seine beruhigende Stimme stimmten sie aber doch friedfertiger. Sie zuckte mit den Achseln und begann das Geschirr abzuräumen, pfiff ein paar Takte eines Schlagers, weinte und lachte abwechselnd.
„So beruhige dich doch“, sagte Balanca. „Hast du wieder Ärger mit deinem Geschäft? Was ist denn?“
„Nichts ist! Nichts, nichts, nichts!“
Der Mutter rutschte ein Teller aus den Händen, den Balanca reaktionsschnell auffing und auf den Tisch zurückstellte. Manuela wandte sich ruckartig Freddy Haubentaucher zu und fauchte: „Sie gehen jetzt besser. Ihre Brille können Sie in einer Woche in meinem Fachgeschäft abholen. Arrivederci und Auf Wiedersehen, Signor Haubentaucher.“
Manuela drängt den verdutzten Mann zur Haustür hinaus, die sie mit einem Knall schloss, als sollte nie wieder ein Mann über ihre Schwelle treten. Sie ging in die kleine Küche, pfiff nun eifrig, ohne allzu oft die Töne des jeweiligen Schlagers zu treffen, und ließ beim Spülen das Geschirr klirren.
Balanca rückte seine Mütze zurecht, nickte Niccolò aufmunternd zu und machte sich mit dem Rad auf den allabendlichen Weg. Nach Feierabend betrieb er eine kleine Kneipe am westlichen Rand des Städtchens unmittelbar am Auenwald. „Zum schiefen Affen“, von den Spießbürgern auch abfällig „Pennertreff“ genannt, wurde von allerlei Käuzen aufgesucht, denen das Leben oft übel mitgespielt hatte. Bei Balanca fanden sie ein trockenes Plätzchen, wo sie nicht allein waren und ihre Weisheiten zum Besten geben konnten.
Niccolò ging unaufgefordert unter die Dusche und dann gleich in sein Zimmer. Er erledigte flüchtig die Hausaufgaben, legte sich schließlich ins Bett, hörte Radio und blätterte in einem Buch. Aus dem Erdgeschoss hörte er Manuela wirtschaften. Wie immer, wenn ihr etwas gegen den Strich gegangen war, stellte sie im Wohnzimmer die Möbel um.
Niccolò konnte sich weder auf das Buch noch auf die Radiostimme konzentrieren. Er zog sich die Decke bis zum Kinn und rollte sich zum Schlafen zusammen. Einmal erwachte er, durch den Türspalt fiel Licht herein, er sah die Umrisse von Manuelas Kopf und hörte sie atmen. Dann wurde die Tür leise geschlossen. Niccolò drehte sich auf den Bauch, erhaschte mit einem Augenaufschlag hinter dem geöffneten Fenster ein Stück Himmel, in dem die Positionslichter eines aufsteigenden Flugzeugs blinkten, und schlief wieder ein.
Am nächsten Morgen erwachte Niccolò ausgeruht und frohgestimmt. Nichts schien ihm heute unmöglich, er hatte noch das gute Gefühl des nächtlichen Traums in sich, als er bei einem Sprung die Arme ausbreitete und fliegen konnte.
In der großen Pause, als die Schüler wieder auf dem Schulhof versammelt waren und ihre angestammten Plätze belegten, ging Niccolò entschlossen auf Paula Klette zu und sagte: „Buon giorno, Paula. Come sta?“
Niccolò liebte die italienische Sprache, sie war wie Musik, und selbst wenn man italienisch fluchte, klang es noch fröhlich.
Paula reckte ihr Kinn vor, ihr Näschen stupste in die Luft, ihr Blick durch die Herzbrille war herablassend. Sie sagte ruppig, doch immerhin redete sie noch mit ihm: „Was quakst du mich an wie ein hässlicher Quakfrosch?“
Niccolò konnte gerade noch sein erstauntes „Ich?“, das ja schon Manuela in Wut brachte, unterdrücken. Er erklärte behutsam: „Das ist Italienisch und heißt: Guten Morgen, Paula. Wie geht es Ihnen?“
„Weiß ich doch“, erwiderte Paula geschmeichelt. „Denkst du vielleicht, ich bin dreimal bekloppt.“
„Denke ich nicht.“
„Denkst du doch. Denn sonst würdest du wie jeder normale Mensch deutsch mit mir reden. Redo hcstued sträwkcür.“
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