Bei Karrenberg ist weiter zu lesen: „Es liegt uns daran, daß jedes Glied der Gemeinde sich abgesondert hält von der Welt und ihrem Wesen, daß, vor allem in der Ehe, keine Jochgemeinschaft gepflegt wird mit Ungläubigen. Verfall einer Gemeinde hat sich immer dann eingestellt, wenn die Glieder in der gebotenen Absonderung von der Welt lässig wurden.“ 42Heute würde man bei solchem Regulierungseifer sagen: Da ist wohl die EU-Kommission einmal zu viel aktiv geworden.
Die weltabgewandte Lebensweise von manchen Gläubigen und das Festhalten an Glaubenssätzen bergen auch Gefahren. Heikel wird es auch dann, biblischen Weisungen zu folgen, wenn es um die dort geforderte körperliche Züchtigung geht oder darum, der Obrigkeit , sprich: Politikern, gegenüber unterwürfig zu sein. Im Brief von Paulus an die Römer heißt es apodiktisch, ohne Wenn und Aber: „Jede Seele unterwerfe sich den obrigkeitlichen Gewalten; denn es ist keine Obrigkeit, außer von Gott, und diese, welche sind, sind von Gott verordnet. Wer sich daher der Obrigkeit widersetzt, widersteht der Anordnung Gottes; die aber widerstehen, werden ein Urteil über sich bringen.“ 43Dieses naive Vertrauen, Gott werde es schon regeln, hatte nicht selten verhängnisvolle Folgen, wie zum Beispiel den Massenmord im Dritten Reich. Auf die christlichen Gemeinden bezogen bedeutet das, in die Politik muss man sich nicht einmischen noch besonders informiert sein. Bequemer geht’s nicht – weder für die Untertanen noch für die Obrigkeit , denn die kann sich damit der Kontrolle entziehen und regieren, wie sie will. Man muss nicht politisch denken, fällt auf politische Phrasen herein, wenn sie nur christlich verpackt sind. Auch auf diesem Gebiet war Hitler ein Meister der Täuschung.
Dergestalt entlastet, kann man sich Wichtigerem zuwenden, wie ich kürzlich entdeckte. In einem der vielen kleinen Ringbücher mit handschriftlich verfassten Predigten meines Vaters las ich zu meinem Erstaunen, was außer dem üblichen Sündenkatalog des Weiteren als Sünde gelten solle. Er schrieb in den fünfziger Jahren: „Heute ist die Sünde zur überströmenden Flut geworden. Kino, Bilder, Bücher, Sport, Schulgefährten, Lehrer, Schulräte, Theologen, Irrlehrer untergraben Gottes Wort und Ordnung.“ Diese Aufzählung ist insofern ungewöhnlich, als Vater normalerweise in der Lage war, seine Theorien mit Bibelzitaten abzusichern. Für die Bewertung von Kino oder Sport aber bietet die Bibel nichts Geeignetes. Abgesehen von dem Generalverdacht, sogar gegenüber Lehrern oder Theologen, macht das eher willkürlich zusammengestellte Sündensortiment unausgesprochen deutlich, dass zwischen der geistlichen, geistigen Welt der Gläubigen und der Welt da draußen , wie es immer hieß, eine imaginäre Grenze verläuft.
Wie so manches der reinen Lehre der Christlichen Versammlung war auch das Konzept der Absonderung ein Plagiat dessen, was andere in anderen Zusammenhängen, anderen Zeiten und anderem Zeitgeist vorgedacht hatten, so das gestörte Verhältnis zu Kulturgütern. Es wird nicht übertrieben sein, wenn es in der Schrift Die Sekten der Gegenwart von Paul Scheurlen heißt: „Die Stellung des ‚Darbysmus‘ zu Welt und Kultur ist völlig ablehnend. Die ‚Welt‘ liegt unverbesserlich im Argen. Aussichtslos und schriftwidrig ist der Versuch, sie mit Kräften des Evangeliums zu durchdringen. Die ‚christliche Welt‘ – welch ein Widerspruch! An Politik und Staatsleben kann sich der Christ nicht beteiligen. […] Die Versammlung treibt geflissentlich Wahlsabotage. Hinsichtlich des Kriegsdienstes empfiehlt sie, nach Posten hinter der Front zu streben. Mit Kunst und Literatur sich zu beschäftigen ist ‚weltlich‘. Der Christ hat damit nichts zu tun. Naturfreude am Sonntag ist unchristlich.“ 44Dieser Verhaltenskodex wird dem Theologen J. N. Darby zugeschrieben, der als Gründer und Kopf der Brüderbewegung gilt.
Der breite und der schmale Weg.
Mit freundlicher Genehmigung von Pastorin Cornelia Trick
Der Kinofilm Die Wand nach dem gleichnamigen Roman von Marlen Haushofer macht sowohl deutlich, wie willkürlich Grenzen verlaufen können, als auch, wie unüberwindlich sie zu sein scheinen. Der Film zeigt: Inmitten einer schönen Alpenlandschaft läuft die Schauspielerin Martina Gedeck auf ihren Streifzügen immer wieder gegen eine unsichtbare Wand, hinter der das Leben wie erstarrt erscheint.
Was der Film als harte Realität einer Depression vor Augen führt, kann in Wirklichkeit eine Wand im Leben eines Menschen sein, die er selbst errichtet hat und hinter der er sich gefangen hält, sich dahinter im schlimmsten Fall sogar geborgen fühlt. Wenn zum Beispiel Menschen im Sinne eines noch so gut gemeinten christlichen Paradigmas zum absoluten Gehorsam erzogen werden, sind sie ihrer inneren und äußeren Freiheit wie auch ihrer Individuation beraubt. Sollten sie keinen Ausbruch wagen, ist ihr Leben in unsichtbaren, aber dennoch spürbaren Wänden gefangen. Strikter Gehorsam gegenüber Eltern, Kirche und Staat hat nicht selten immer dann zu Radikalisierung, wenn nicht sogar zu Kriegen geführt, wenn Menschen, Gruppen oder ganze Nationen Exklusivität für sich beanspruchen, andere ausgrenzen oder sogar bekämpfen. So entsteht eine Wand.
Kürzlich las ich in der Süddeutschen Zeitung (15.04.2014), dass auch der erste israelische Zoodirektor die Bibel beim Wort nahm. Aharon Schulov – so der Name des aus der Ukraine eingewanderten Zoologie-Professors – beherbergte ursprünglich alle 130 in der Bibel erwähnten Tiere in seinem Zoo. Seine biblisch begründete Käfighaltung zeigte aber schon bald Kollateralschäden. Er kannte seine Bibel gut und las bei Jesaja 11,6: „Und der Wolf wird bei dem Lamme weilen; und der Pardel bei dem Böcklein lagern.“ Die Umsetzung dieser Prophezeiung ging schon bald eindeutig zu Lasten der Lämmer und Böcklein. Ob es gelungen ist, Löwen Stroh schmackhaft zu machen, wie es bei Jesaja weiter heißt, ist nicht überliefert.
Der Wolf wird bei dem Lamme weilen; und der Pardel bei dem Böcklein lagern. Gemälde von Franz Hanfstaengl. Mit freundlicher Genehmigung von Hans Grüner.
Pietisten und Brüdergemeinden
Mit Bismarck, der ursprünglich eine eher liberale Religionsauffassung hatte, obwohl dessen Frau pietistischen Kreisen entstammte, entstand im Deutschen Reich eine tolerante Ära nach dem Prinzip: „Jeder soll nach seiner Fasson selig werden.“ Das Zitat stammt von Friedrich dem Großen. Preußen war damals, mit Ausnahme seiner Enklaven im Westen, evangelisch.
Bereits Ende des 17. Jahrhunderts bildeten sich Untergruppierungen der lutherischen Kirche, initiiert zunächst von Philipp Jakob Spener und dessen Anhänger. Sie drängten auf lebendige Herzensfrömmigkeit und werktätiges Christentum gegenüber der damals in der lutherischen Kirche herrschenden bloßen Lehr- und Bekenntnisgerechtigkeit. Der Name Pietist wurde Anfangs in Leipzig von den Orthodoxen als Schimpfname im Sinne von Frömmler für einige junge, durch Spener angeregte Leipziger Magister gebraucht, die seit 1689 erbauliche Vorlesungen über das Neue Testament (collegia pietatis) zu halten begonnen hatten; diese aber nahmen ihn bald als Ehrennamen an. Die neue Bewegung betonte besonders die „Wiedergeburt“ oder „Erweckung“ als Merkmal lebendigen Christenglaubens und in Abkehr von der Kanzelpredigt beziehungsweise Alleinherrschaft der Theologen und professionellen Pastoren in der protestantischen Kirche, die Verkündung des allgemeinen Priestertums .
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