»Platz machen! Auf die Seite«, bemühte sich Gerhard Dillich wild gestikulierend um ein Durchkommen. Die dicken Regentropfen sausten wie wild gewordene Hummeln auf seinen ungeschützten Hals und liefen ihm in kleinen Bächen den Körper hinab. Seine olivfarbene Hose war bereits bis zu den Knien hinauf patschnass. Ein Sanitäter leistete ihm Hilfestellung. Gemeinsam gelang es den beiden, die wilde Horde so von den beiden Einsatzfahrzeugen abzudrängen, dass ein schmaler Weg zur Weiterfahrt frei wurde. Vorsichtig steuerte Max Kruse den Streifenwagen durch die Menschenansammlung. Der Sanitätskrankenwagen folgte ihm. Die Reifen der Fahrzeuge krochen knirschend über Glasscherben – Reste von Fensterscheiben, die durch den Druck der Detonationen aus ihren Rahmen geplatzt waren und nun über einem Teil des Hofes verstreut im Regenwasser herumlagen. Der Regen hämmerte weiter in die riesigen Pfützen auf dem welligen Asphalt.
Auch drüben, jenseits des Maschendrahtzaunes der Asylantenaufnahmestelle – dort, wo noch vor Kurzem der Attentäter seine Handgranaten gezündet hatte –, herrschte trotz des heftigen Regens ebenfalls eine rege Betriebsamkeit. Die Anrainer und Bewohner des nächstgelegenen Wohnhauses, deren nach Westen gelegene Fenster nur noch aus dunkel gähnenden, offenen Löchern bestanden, hatten sich dicht gedrängt am Zaun versammelt und glotzten unter einem Meer von bunten Regenschirmen heftig diskutierend auf das Gelände des Asylantenheims hinüber. Oben auf einigen der Balkone standen andere Hausbewohner mit schweren Taschenlampen bewaffnet und bemühten sich verzweifelt, mit ihren Lichtquellen den nächtlichen Regen zu durchdringen. Immer mehr Nachbarn aus der näheren Umgebung trafen ein, gesellten sich zu den Schaulustigen am Zaun und wollten aufgeregt wissen, was da drüben bei den Asozialen passiert war. Ein weiteres Einsatzfahrzeug fuhr auf den Hof. Wenig später begannen Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks drei starke Halogenscheinwerfer in Betrieb zu nehmen, welche kurz darauf die Szene gespenstisch ausleuchteten. Nun sah man den Regen, der in langen, schrägen Strichen auf die Erde prasselte, sich mit den Blutlachen vermischte und diese in den nächsten Gully spülte. Sanitäter in schweren Regenjacken trugen hastig Bahren und Leichensäcke über das Gelände und suchten verzweifelt nach Verwundeten und Überlebenden.
»Jetzt sehen wir wenigstens etwas. Das hat vielleicht einen Schlag gegeben«, erklärte Illona Seitz den Herumstehenden, »drei Mal kurz hintereinander. Ich war grad auf dem Abort gsessen, als die Fensterscheibe in meinem Bad in tausend Stücke zerscheppert ist. Da, schaut nur her, da am Hals hat mich eine Scherbe getroffen. Geblutet hab ich wie eine Sau.” Illona Seitz deutete auf die Stelle ihres Halses, wo nun ein kleines Wundpflaster klebte. »Da denkst du an nix Böses, sitzt am Abort und plötzlich fliegt dir das halbe Haus um die Ohren. Da machst du was mit, bis du alt und grau wirst. Was ist denn überhaupt passiert?«, wollte sie schließlich wissen.
»Ein Attentat auf das Asylantenheim! Bestimmt!«, mutmaßte ihr Nachbar, Beppo Brehm. »Bei mir sind auch die Fenster kaputt gegangen. Das schaut ja schlimm aus, da drüben! Da soll angeblich einer mit Handgranaten rumhantiert haben. Hab ich so übern Zaun vernommen. Ein Polizist hat so etwas Ähnliches gesagt.«
»Wer?«, wollte Illona Seitz wissen.
»Weiß ich doch nicht, ich kenn doch nicht alle Polizisten.«
»Nein, ich mein, wer hat mit Handgranaten rumhantiert?«
»Das weiß ich doch schon gleich gar nicht«, entsetzte sich Beppo Brehm, »bin doch kein Hellseher!«
»Das wundert mich nicht, dass die Handgranatn ham«, meinte eine Nachbarin von der gegenüberliegenden Straßenseite, »schaut euch doch des Gschwerdl da drüben an. Wo sie nur alle herkommen? Die meinen, bei uns da ist das Schlaraffenland, wo Milch und Honig fließen. Wo man nix ärwern muss! Wo einem der Staat das Geld hinten und vorn nur so reinstopft! Das Gschwerdl kennt doch seine Rechte viel besser als unsereins. Da siehst du mal wieder, was die alles ham: sogar Handgranaten! Wos ner die klaut ham? Da musst du ja Angst kriegn, dass die dich nicht auch noch in die Luft sprengen.«
»Genau«, stimmte eine Nachbarin mit einem gelben Regenschirm in die Diskussion ein. »Sogar die Kirchen, allen voran die katholische, sprechen von Demut und Hilfsbereitschaft gegenüber den Flüchtlingen. Die redn sich leicht daher. Soll doch der Vatikan seine Pforten aufmachen und die Asylanten aufnehma. Platz genug hams doch.«
»Und Geld und Reichtümer hams a«, ergänzte Beppo Brehm. »Was allans ich jährlich an Kirchensteuer zahl. Da derf ich goar net dran denkn, sonst überkommt mich gleich die kalte Wut.«
»Der Meinung bin ich auch«, warf die gelb Beschirmte erneut ein, »soll doch der Papst seine Schatztruhen mal öffnen und seine Reichtümer an die armen Flüchtlinge verteilen. Der hat doch keine Ahnung, dass die meisten von denen hochkriminell sind und sogar mit Handgranaten werfen. Wer zahlt etz eigentlich für eure kaputten Fenster und ein Schmerzensgeld für deine lebensgefährliche Verletzung am Hals, Illona? Das kannst fei beantragen. Hoffentlich kriegst keine Blutvergiftung. Na, dann aber! Dann gehst aber nüber zu dem Ausländerpack! Dann können die was erleben, gell. Denen tät ich schon den Marsch blasen! Mein lieber Gott, wenn ich die Merkel wär, die tät ich alle rausschmeißen aus Deutschland. Die tät ich wieder zurückschicken in ihre Negerhütten nach Afrika. Alle! Auf einen Schlag! Armes Deutschland. In was für einer Zeit leben wir denn?«
Illona Seitz und Beppo Brehm sahen sich an und verdrehten die Augen. Sie standen genau an der Stelle, an der der Attentäter sich ebenfalls aufgehalten hatte. Doch das wussten sie natürlich nicht. Der eh schon weiche Blätterboden war durch das Herumgetrampel der Schaulustigen und dem heftigen Regen zwischenzeitlich völlig aufgeweicht. Auch die Temperaturen waren innerhalb der letzten halben Stunde deutlich gefallen. Illona Seitz fror. Die Kälte kroch ihr die Beine empor und sie stapfte von einem auf den anderen Fuß. Zurück ins Haus wollte sie aber noch nicht. Noch tat sich etwas auf der gegenüberliegenden Seite, und sie wusste noch nicht einmal, was ganz genau dort drüben überhaupt passiert war. »Außerdem«, dachte sie sich, »könnte das Technische Hilfswerk doch gleich mein Badfenster abdichten, wenn die schon da sind.« Weder sie noch Beppo Brehm registrierten, dass sie beide schon die ganze Zeit auf einem Stück Papier herumtrampelten, welches dadurch immer tiefer in die weiche Erde gedrückt wurde.
Jenseits des Zauns, kaum zwanzig Meter entfernt, herrschte immer noch das absolute Chaos. Die vorläufige Zahl der geborgenen Toten lag aktuell bei dreiundzwanzig Asylsuchenden. Den Ermittlern war zwischenzeitlich bewusst geworden, dass die Handgranaten – und nur um solche Explosivkörper konnte es sich bei dem Anschlag handeln – von jenseits des Zaunes geworfen wurden. Sie rückten mit fünfundzwanzig Beamten an, vertrieben die Schaulustigen um Beppo Brehm und Illona Seitz und geleiteten sie unter Protest in ihre Häuser. »Ich wart aufs Technische Hilfswerk«, versuchte Illona Seitz zu argumentieren, »die solln gleich mei kaputtes Badfenster repariern. Auch wir sind Betroffene und ham ebenfalls ein Anrecht auf Hilfeleistung. Wozu zahln wir unsere Steuern? Die da drübn zahln keine Steuern, die kosten nur Geld. Was is eigentlich genau passiert?« Es half nichts. Drinnen im Haus nahmen die Beamten ihre Personalien auf und spannten draußen am Zaun ein weiteres rot-weißes Absperrband. Dann sicherten die Polizeibeamten zusätzlich das Areal und warteten ungeduldig auf ihre Kollegen von der Kriminaltechnischen Untersuchungsabteilung. Doch die waren mit ihrer Arbeit auf der anderen Seite noch längst nicht fertig. »Ist das Technische Hilfswerk auch noch da?«, wollte Illona Seitz von ihnen wissen.
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