Akgül Özkan und Walter Fuchs, die beiden Jungverliebten, konnten und wollten nicht voneinander lassen, trotz der Probleme, welche beide mit ihren Elternhäusern hatten.
»Du musst verstehen, Walter«, schluchzte Akgül und drückte sich an ihren neuen Freund, »meine Eltern kommen aus tiefste Provinz in Türkei. Aus Urfa in Südostanatolien. Ist zwar Stadt mit mehr als 500.000 Leute – so groß wie Nürnberg – aber, wie sagt man? Sehr konservativ und fromm. Alle Frauen tragen Kopftuch. Musst wissen, ist bedeutende Pilgerstätte für Muslime.«
»Und was ist da so bedeutend?«, wollte Walter, der seinen rechten Arm um ihre Schulter gelegt hatte, wissen, »ich hab von Urfa noch nie was ghört.«
»In Urfa liegt Halil-Rahman Moschee mit Abraham Teich, und darin heilige Karpfen.«
»Heilige Karpfn? Ja verregg«, witzelte Akgüls Freund.
»Ja, heilige Karpfen, hast du gehört richtig. Nach altem Glauben wollte König Nemrud den Propheten Abraham verbrennen auf Scheiterhaufen, weil Abraham wollte nicht anerkennen alte Götter. Und in Koran steht: Verbrennt ihn und verteidigt eure Götter, falls ihr etwas tun wollt, aber es steht auch Oh Feuer sei kühl und unschädlich für Abraham. Muslime glauben, dass Gott hat verwandelt das Feuer in Wasser, und brennende Holzscheite aus Scheiterhaufen in Karpfen. Deshalb bei uns Karpfen sind heilige Tiere und dürfen nicht gegessen werden.«
»Und da seid ihr nach Röttenbach gezogen?« Walter Fuchs konnte es nicht glauben. »Mitten rein ins fränkische Karpfenland, wo es die besten Karpfn gibt? Eine kulinarische Spezialität. Wo allein der Landrat von September bis April einen ganzen Karpfenweiher leer frisst.«
»Versteh ich nicht, was du meinst mit Landrat und Karpfen. Ist Landrat auch heilig, und schützt Fische?«
Walter lachte hell auf und meinte: »Na, der net! Weder des eine noch des andere, aber des musst du auch net verstehn, Akgül.«
Walter hatte sich heute am Christian-Ernst-Gymnasium in Erlangen krank gemeldet, nur um Akgül in Nürnberg zu treffen, wo sie die Private Fachoberschule Mesale e.V. in der Hasstraße besuchte. Vor allem Schüler und Schülerinnen aus Migrantenfamilien, welche sich mit der deutschen Sprache noch schwer taten, besuchten die Schule. Vor fünfzehn Minuten war Schulschluss, und der Röttenbacher hatte vor der Schule auf seine Akgül gewartet. Nun machten sie sich Händchen haltend auf den Weg in die Innenstadt zum Bahnhof. Derzeit bestand so gut wie keine Chance sich anderweitig zu sehen. Akgül hatte noch immer Hausarrest.
»Akgül«, begann Walter Fuchs, »das ist wirklich Scheiße, das mit deinen Eltern. Ich mein, meine ham sich auch gscheit aufgregt, aber das geht mir am Arsch vorbei, denen ihr Gwaaf. Bei dir ist das viel schlimmer. Dass dich dein eigener Bruder geschlagen hat, das ist eine Sauerei. Dem tät ich am liebsten eine in die Eier geben, dem Kümmeltürken. Oh, entschuldige, das ist nicht so gemeint. Was machen wir denn etzerdla? Du weißt doch, dass ich dich so gern mag. Ich tät dich doch am liebsten jeden Tag sehn. Das halt ich fei auf Dauer net aus, das mit dem Stubenarrest. Wie lang soll das denn noch gehn?«
»Kann nicht sagen«, antwortete Akgül seufzend und mit tränenfeuchten Augen, »mein Vater hat nix gesagt, wie lange dauert, und meine Bruder ständig passt auf mich auf. Musst wissen, ist arbeitslos, hat Zeit, und immer fragt: Wo du gehst hin?, Was du machst morgen?. Sagt, wenn ich will was unternehmen, ich soll Müselüm anrufen. Aber, glaub mir, ich nicht lieben Müselüm, ist kein guter Mann. Ich will nicht mehr sehen diese Mann. Ich lieben dich. Möchte auch den ganzen Tag sein bei dir. Aber Vater sagt, wenn nicht Schluss mit deutsche Freund, er mich schicken zurück in Türkei, nach Südostanatolien, zurück nach Urfa zu meine Großmutter. Und hat gesagt, dass er wird aussuchen eine türkische Mann für mich, der mich wird heiraten und Kinder machen. Walter, ich nicht will zurück nach Urfa, will bleiben hier bei dir. Türkischer Ehemann ist nicht gut, Südostanatolien auch nicht gut.«
»Wenn die dich in die Türkei zurückschicken, ich glaub, dann bring ich sie alle um«, stieß Walter Fuchs zwischen den Zähnen hervor. »Dann werd ich zur rasenden Wildsau. Dann kann ich mich nicht mehr zurückhalten.«
»Nein Walter, darfst du nicht so denken, bringt nur Unglück. Vielleicht ist Hausarrest doch bald vorbei. Wir müssen haben Geduld. Auf jeden Fall ich will nicht mehr sehen Müselüm, lieber Hausarrest. Allah sei Dank, dass Vater und Kemal nicht haben gedacht an iPhone und wir uns immer noch schicken können Botschaft und Fotos. Lass uns beeilen, sonst Kemal schöpft Verdacht, wenn ich kommen zu spät nach Haus.«
Walters iPhone piepste. Er checkte den SMS-Eingang und schüttelte den Kopf.
»Sie dir schon wieder hat geschrieben wütende Botschaft?«, mutmaßte Akgül.
Walter Fuchs nickte nur und löschte die SMS. Irgendwann würde er seiner früheren Freundin den Hals umdrehen. Sie ging ihm zwischenzeitlich dermaßen auf den Sack, mit ihren ständigen Eifersüchteleien.
Müselüm Yilmaz war höchst verwirrt und immer noch zornig. Lange hatte er mit Akgüls Vater am Telefon gesprochen. Er hatte eine unbändige Wut auf diesen Deutschen, der ihm Akgül weggenommen hatte. Seine Akgül. Sie war ihm versprochen worden. Nun wollte sie nichts mehr von ihm wissen, hatte Ahmet gesagt. Lieber bliebe sie Jungfrau, hatte sie gesagt. Zumindest dieser Satz hatte in Müselüm eine gewisse Erleichterung hervorgerufen, denn er hatte die attraktive Akgül noch nicht aufgegeben. Er würde um sie kämpfen. Das hatte er sich vorgenommen. Aber dann erzählte ihm Ahmet Özkan, dass er mit den Gedanken spiele, seine ungehorsame Tochter gegebenenfalls in die Türkei zurückzuschicken. Nach Urfa zu ihrer Großmutter. Nach Urfa wollte Müselüm Yilmaz auf keinen Fall, das kam für ihn überhaupt nicht in Frage. Was sollte er denn in diesem Provinznest am Arsch der Welt? Soweit würde seine Zuneigung zu Akgül nun auch wieder nicht gehen. Vielleicht lief ja etwas mit dieser Deutschen? Mit dieser Doris Kunstmann, die sich bei ihm telefonisch gemeldet hatte. »Der Walter, der dir die Akgül ausgespannt hat, war bis vor Kurzem mein Freund«, hatte sie ihm am Telefon erklärt, »und ich bin, genauso wie du, stinksauer auf ihn und deine Akgül. Insofern sitzen wir beide im gleichen Boot, wir sind die beiden Betrogenen. Und das stinkt mir gewaltig. Ich denke, die beiden sollten für ihre Untreue bezahlen. Deshalb rufe ich dich an. Was meinst du?«
»Kenne ich dich?«, wollte Müselüm von ihr wissen.
»Ich denke nicht«, kam die Antwort, »aber ich habe dich schon mal mit ihr in Erlangen gesehen. Ich weiß, wie du aussiehst. Hast du Zeit, Lust und Interesse, dass wir beide mal darüber reden?«
»Schon.«
»Okay, dann treffen wir uns am Samstagabend um acht in Erlangen, im Bogart‘s. Keine Sorge, ich spreche dich an, wenn du da bist.«
Sie hatte eine verdammt sexy Stimme am Telefon. Etwas rauchig. Erotisch war der bessere Begriff. Alter? Schwer zu schätzen. Er hatte den Eindruck, sie wusste genau, was sie wollte. Das gefiel ihm. Er würde da sein, am Samstag.
*
Während Doris Kunstmann im Bogart‘s auf Müselüm Yilmaz wartete, schlich ein junger Mann mit Rucksack durch die Büsche an der Plauener Straße in Zirndorf. Langsam tastete er sich in der Dunkelheit bis zum Zaun vor, der die Anlage für Asylsuchende umgab. Seine Stirnlampe wollte er nicht einschalten, um sich nicht selbst zu verraten. Er stand ganz still und lauschte den Geräuschen der Nacht. Menschliche Stimmen drangen gedämpft aus den Zelten jenseits des Zauns zu ihm herüber. Ausländische Stimmen, die er nicht verstand. Manche leicht dahin murmelnd, manche kräftig und fordernd. Aus dem dreistöckigen Wohnhaus auf seiner Seite des Zauns drang aus einem offenen Balkonfenster die Eingangsmelodie der Serie Die Zwei. In dem kleinen Wohnzimmer dahinter flackerte der unruhige Lichtschein des Fernsehbildschirms. Bernd Auerbach roch den modrigen Geruch der nassen Erde, auf der er stand. Der Boden war noch mit dem Laub vom letzten Jahr übersät. Er stand weich, wie auf mehreren dünnen Teppichen. Fremdländische Essensgerüche aus den Zelten wehten herüber und vermischten sich mit dem Geruch der modrigen Erde. Das Buschwerk, in dem er sich verbarg, war noch von der Feuchtigkeit des letzten Regens benetzt. Nach weiteren fünf Minuten des stillen Wartens, und nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, legte er seinen Rucksack geräuschlos und vorsichtig auf die feuchten Blätterschichten. Er öffnete ihn, griff hinein und holte die drei Transportbehälter mit den todbringenden amerikanischen M61-Splitterhandgranaten heraus. Immer wieder lauschte er in die Finsternis. Jenseits des Zauns unterhielten sich die Menschen in ihren Zelten weiterhin in ansteigenden und abflachenden Tonlagen. Ein Kleinkind begann zu weinen. Irgendwo im Gebüsch neben ihm regte sich etwas. Eine fette Kröte kroch unter einem tiefhängenden Zweig hervor und machte sich gemütlich davon. Mit Bedacht und Routine nahm er die drei Handgranaten aus ihren Behältern und legte sie vor sich auf das feuchte Blattwerk. Die Transportbehälter steckte er wieder in den Rucksack zurück. Die Sprengkörper schimmerten matt und bedrohlich im gedämpften Widerschein, der aus den drei Zelten auf der anderen Seite herüberdrang.
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