Bernd Auerbach hatte sich die Fotos, die seine Freundin wenige Tage zuvor gemacht hatte, ganz genau eingeprägt. Auch das Firmengelände eines Honda-Händlers ganz in der Nähe, Ecke Brandstätterstraße/Zwickauerstraße, hatte sie ausgekundschaftet. Die langgezogene Halle sah nicht so aus, als ob sie ausreichend gegen Einbrecher geschützt sei. Videokameras waren jedenfalls nicht zu erkennen. Er hatte nicht vor, nach seiner Tat das Gebiet sofort zu verlassen. Zu nah lag die Polizeiinspektion Zirndorf. Er musste damit rechnen, dass die Bullen – trotz Notbesetzung während des Wochenendes – sehr schnell am Tatort eintrafen und Straßensperren errichteten. Er hatte keine Lust, den Polizeibeamten in die Arme zu laufen. Nein, er würde ganz in der Nähe bleiben und sich bis zum Sonntagabend auf dem Gelände des Honda-Händlers verstecken. Eine Flasche Cola und vier belegte Brote steckten ebenfalls in seinem Rucksack. Das reicht bis Sonntagabend. Wer würde damit rechnen, dass der oder die Täter noch in der Nähe waren? Niemand. Sie würden hier niemals nach ihm suchen. Ein genialer Plan, den sie sich zuhause ausgedacht hatten, Anna und er. Bernd Auerbach sah auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr. Noch dreißig Minuten. Konzentriert befasste er sich in Gedanken nochmals mit dem Entsichern und Werfen der Handgranaten. Das war der Knackpunkt. Er schloss die Augen und versuchte, sich die Szene vorzustellen. Es musste alles sehr schnell gehen. Zwar hatten die Explosivkörper einen eingebauten Zeitstempel, aber mehr als acht bis zwölf Sekunden zwischen Zündung und Explosion blieben ihm nicht. Der Splitterradius dieser Defensivwaffen war größer als die Wurfreichweite. Um selbst nicht Opfer seiner Handgranaten zu werden, musste er spätestens nach acht Sekunden um die Ecke des nahestehenden Wohngebäudes verschwunden sein. Trotz aller Vorsicht ein heikles Unterfangen. Nachdem er den Angriff gedanklich durchgespielt hatte, warf er einen kleinen Zettel achtlos neben sich auf die Erde. Er wusste nicht wozu, aber Thomas Keller bestand unbedingt darauf, dieses Stück Papier, auf dem eine Reihe verwirrender Buchstaben notiert waren, am Tatort zu hinterlassen. Thomas Keller würde schon seine Gründe haben. Er vertraute ihm. Plötzlich veränderten sich die Geräusche. Die Äste und Zweige der hohen Laubbäume über ihm fingen zu tanzen an. Ihre Stämme ächzten. Der Wind flüsterte aus den hin und her wankenden Baumkronen zu ihm herab. Erst zart, dann rasant zunehmend. Es regnete braune, vertrocknete Blätter herab. Bernd Auerbach roch den Regen, der sich von Westen her anschlich. Das Gewebe der Wolken hatte seine Zartheit verloren. Schwere, schwarze Regentürme ritten wie eine Herde springender Delfine aus dem Westen daher und verkündeten nichts Gutes. Einige dieser Motherfucker steckten ihre Köpfe aus den Zelten, um sie sofort wieder zurückzuziehen. Diese Trottel, bald würde ihnen die Welt um die Ohren fliegen. Noch zehn Minuten.
*
»Sie sind Müselüm Yilmaz?!« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Die Stimme traf ihn von hinten und seine Gehörgänge transportierten pure Erotik in sein Gehirn. »Wollen wir uns dahinten in die Ecke setzen?« Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sie sich um und lief vor ihm durch das Lokal.
Obwohl Müselüm wusste, dass sie auf ihn wartete, war er doch von ihrem plötzlichen Erscheinen überrascht. Er folgte ihr durch das Lokal. Ob er wollte oder nicht, er musste auf ihren prallen Arsch gucken, der beim Gehen von links nach rechts und von rechts nach links hin und her schwankte. Aufreizend, wie er fand. Ihre blonde Mähne fiel ihr glatt in den Rücken und endete zwischen den Schulterblättern. Als sie ihn begrüßte, waren ihre himmelblauen Augen und die langen, gebogenen Wimpern noch auffallender als ihre üppige Oberweite und der schwarze BH, der durch das helle T-Shirt von Dolce & Gabana schimmerte. Müselüm genoss die leichte Schwellung in seiner Hose. Die Frau war ein Hammer, eine absolute Wucht. Leider konnte er ihre Beine nicht sehen, die in einer schwarzen Röhrenjeans steckten. Die roten High Heels, in denen sie vor ihm dahin schritt, hätten alleine schon eines Waffenscheins bedurft. Er rieb seine mächtige Nase, die aus seinem sonst ebenmäßigen Gesicht ragte. Im Vergleich zu ihm hatte Thomas Gottschalk ein Kindernäschen.
Sie waren an dem Tisch in der Ecke angekommen. »Setzen Sie sich doch«, forderte sie ihn auf.
»Können wir nicht besser zum Du übergehen?«, hörte er sich sagen, während er auf dem Stuhl Platz nahm. Ihm war ganz heiß. »Das Sie klingt so förmlich, so unpersönlich.«
»Von mir aus, ich bin die Doris.«
»Müselüm.«
»Wollen wir was trinken?«, schlug sie vor.
Müselüm fiel es schwer, seinen Blick von ihrer enormen Oberweite abzuwenden, welche sich bei jedem Atemzug hob und senkte. »Gerne«, krächzte er.
»Hast du was im Hals?«, wollte sie wissen.
»Nein, nein, nur ein bisschen heiser, eine leichte Erkältung.« Die Bedienung trat an den Tisch. »Wisst ihr schon, was ihr wollt?«
»Einen großen Cappuccino für mich«, antwortete Doris Kunstmann.
»Ich nehme einen grünen Tee.«
»Also«, nahm Müselüm Yilmaz das Gespräch auf, »du hast mich angerufen und mir vorgeschlagen, dass wir uns hier treffen. Wenn ich es recht verstehe, ist dein bisheriger Freund jetzt mit meiner Akgül liiert. Das stinkt dir offensichtlich so gewaltig, dass du am Telefon von Rache, Bestrafung oder zumindest von Vorschlägen gesprochen hast, welche in diese Richtung gehen. Hier bin ich, was willst du mir vorschlagen?«
Doris Kunstmann hatte seinen Worten aufmerksam gelauscht, und versuchte sich ein Bild von ihrem Gegenüber zu machen. Einen ersten Eindruck. Sie hatte es bereits bereut, dass sie sich auf seinen Vorschlag zum Du eingelassen hatte. Sie versuchte zwar nicht hinzublicken, aber immer wieder wanderten ihre Augen wie magisch in sein Gesicht und blieben auf seiner riesigen Nase hängen. Was für ein Kolben! Nun roch sie auch noch diesen feinen Knoblauchgeruch, den sein Körper ausströmte und der penetrant in der Ecke des Raumes hängen blieb. Leichter Ekel kroch ihr das Rückgrat empor. Am liebsten wäre sie aus dem Lokal geflüchtet, aber nun musste sie da durch. Da half nichts, wenn sie sich nicht lächerlich machen wollte. Sie hatte sich die Suppe selbst eingebrockt. Was erhoffte sie sich eigentlich von diesem Menschen, dessen Blicke ständig zwischen ihren Augen und ihrem Busen hin und her wanderten? Sie musste gepudert gewesen sein, als sie in ihrer ersten Wut beschloss ihn anzurufen, noch dazu ihn zu treffen. Sollte sie offen mit ihm reden oder doch besser gleich verschwinden? Sie wollte ja ansonsten nichts von ihm.
»Ein großer Cappuccino und ein grüner Tee«. Die Bedienung trat an ihren Tisch und stellte die Getränke auf der Tischplatte ab.
»Können Sie mir noch ein Glas stilles Wasser zum Kaffee bringen? Entschuldigung, ich hab das vorhin vergessen.«
»Kein Problem, kommt sofort.«
»Ja«, nahm Doris Kunstmann das Gespräch wieder auf, und starrte dabei auf die Tischplatte, »das ist so …« Dann begann sie detailliert zu erzählen, wie sie von Walters Untreue erfahren, was sie sich dabei gedacht und wie verletzt sie sich gefühlt hatte und wie langsam der Wunsch nach Rache in ihre Gedanken geschlichen war und sich dort festgesetzt hatte. »Es gäbe natürlich auch die Möglichkeit, es noch einmal zu versuchen und um die eigene Liebe zu kämpfen«, erklärte sie.
»Was meinst du damit?«, wollte Müselüm wissen.
»Mann, war der Kerl doof«, dachte Doris Kunstmann und begann zögernd: »Ich meine, ich kämpfe um meine Liebe zu Walter und verzeihe ihm alles, falls er zu mir zurückkehrt. Du könntest ja die gleichen Gedanken bezüglich deiner Akgül haben, und wir beide könnten uns in unseren Bemühungen absprechen. Vielleicht könnten wir ja auch zu viert über unser Problem sprechen? Was meinst du? Wer weiß, vielleicht hast du dich mit dem Verlust deiner Freundin ja schon abgefunden? Mag sein, dass du dir eine Fortsetzung eurer Beziehungen gar nicht mehr vorstellen kannst? Das sind so die Gedanken, die mich im Moment bewegen. Ich bin einfach hin und her gerissen.«
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