„Müsstest du hierzu nicht nach Kiel umziehen?“, fragt Mutter Lissy mit besorgter Miene. „Wäre mir gar nicht so recht, aber ich befürchte, es würde so kommen!“
Nili fügt hinzu: „Da mein Einsatzgebiet sich dann auf ganz Schleswig-Holstein erstreckt, könnte ich vielleicht erreichen, dass ich normalerweise von hier aus – ein viel zentraler gelegener Standort als Kiel – operiere, wenn auch meine Dienststelle sich dort befindet. Ich würde mir vor Ort nur eine kleine Notübernachtungsstelle organisieren. Könnte vielleicht klappen, wenn mein zukünftiger Chef – dem ich allerdings noch nicht begegnet bin – zustimmt.“
Nilis Oma Clarissa bemerkt nach einer längeren Pause: „Nili, mein liebes Kind, das mit dem LKA finde ich prima, weil du endlich eine Aufstiegschance hättest, die du hier in Oldenmoor niemals bekommen würdest. Der zweite Teil deiner Erzählung gefällt mir dafür umso weniger!“
„Ach, Abuelita, darüber bin auch ich mir bei Weitem noch nicht im Klaren, glaube mir!“
Lissy wirft ein: „Der gute Herr Staatsanwalt und seine Tochter ahnen ja nicht, in welch gefährliches Abenteuer sich das Mädchen da einlassen würde, und dann auch noch dich mit hineinzuziehen, ist im Grunde eine Zumutung!“
„Das glaube ich aber so nicht ganz, Ima“, antwortet Nili beherzt. „Die möglichen Risiken sind durchaus bekannt, aber auch ich halte sie für kalkulierbar, für beherrschbar – gründliche Konzeption und entsprechend vorsichtige Vorgehensweise vorausgesetzt. Sorgfältige Planung ist ja das Alpha und Omega jeglicher Polizeiarbeit, und dies wird voraussichtlich eine meiner hauptsächlichen und zukünftigen Aufgaben im Kieler Amt sein. Die größte Frage, die sich mir dabei aber stellt, ist Kitts Belastbarkeit bei einem solch diffizilen Unterfangen. Was ich unbedingt vorab von euch beiden als wichtigste Entscheidungshilfe benötige, sind alles umfassende Informationen über Bolivien, das naturgemäß wohl eines der Hauptziele unserer Ermittlungen sein wird.“
Während der nächsten beiden Wochen verbringen die drei Frauen Abend für Abend mit ausführlichen Berichten und Erzählungen aus ihrer zwölfjährigen Exilzeit in Bolivien. Sehr oft liest Clarissa aus ihren damaligen Tagebüchern vor. So zum Beispiel:
So gab es hier für mich zunächst wirklich viel Neues zu lernen!
Erst einmal Grundsätzliches: Hier, auf einer Höhe von 3.800 Metern, kocht Wasser nicht erst bei 100 °C wie auf Meereshöhe, sondern bereits bei 84 °C! Dies ist bedingt durch den verminderten atmosphärischen Druck in dieser Höhe. Das hatte ich ja auch irgendwann im Flensburger Lehrerseminar gelernt, aber natürlich längst wieder vergessen! Das bedeutet, dass man viel mehr Zeit als bei uns zu Hause braucht, um Speisen zu garen. Besonders schwierig ist es beim Fleisch – dies muss endlos lange kochen und ist dann meistens total ausgelaugt und faserig. Zudem sind alle Speisen, wenn sie auf den Tisch kommen, höchstens noch lauwarm, aber daran kann man sich schnell gewöhnen. Es soll ja auch nicht so gesund sein, immer so heiß zu essen, hat Fritzie Grünbach uns kürzlich verkündet. Sie muss es ja wissen, als Biologin.
Da ich soeben das Thema „Wasser“ erwähnte: Leitungswasser aus dem Hahn ist hier keineswegs gleichzusetzen mit gesundem Trinkwasser. Das ursprünglich reine Wasser stammt aus der Schneeschmelze in den hohen Bergen, fließt aber zunächst über offene Kanäle und Rohrleitungen in die Stadt und wird auf diesem Wege durch Tier und Mensch verunreinigt. Wir dürfen deshalb niemals ungekochtes und ungefiltertes Wasser trinken oder zum Waschen von roh essbaren Lebensmitteln verwenden. Auf dem Innenhof wurden zwei große Berkefield-Filter aufgestellt, die mit dem vorab mindestens zehn Minuten lang abgekochten Wasser nach dem Abkühlen befüllt werden. Das Wasser dringt durch die Keramikpatronen und wird dabei von Schwebestoffen befreit und gereinigt.
Viele Immigranten waren bereits von den im Leitungswasser mitgeführten Krankheitserregern, vor allem Typhusbakterien, befallen und erkrankten schwer. Etliche von ihnen sind sogar daran gestorben. Josef hat uns deshalb, wie auch alle anderen Hausbewohner, zur Typhusimpfung zum Amerikanischen Gesundheitsdienst gebracht, wo wir eine sehr schmerhafte Spritze erhielten. Fast alle hatten an den nachfolgenden zwei bis drei Tagen erhöhte Temperatur und der Oberarm war um die Einstichstelle herum stark gerötet und tat recht stark weh. Einige Wochen danach mussten wir noch einmal dorthin und wir wurden gegen Viruela, die schwarzen Pocken, geimpft, die hier ebenfalls überall grassieren. Beide Impfungen müssen alljährlich wiederholt werden.
Ebenso bedeutend: In dieser Höhe hat die Luft beachtlich weniger Sauerstoff, deshalb geht einem beim schnelleren Gehen oder gar bei einer der vielen steil ansteigenden Straßen in dieser Stadt rasch die Puste aus.
Oder auch:
Nicht, dass ich mich beklagen will, uns geht es ja gut in diesem Land, das uns das Leben gerettet hat. Wir haben ein Dach über dem Kopf, sind von netten Menschen umgeben, mit denen wir uns gut verstehen und wo gegenseitige Hilfe großgeschrieben wird. Zudem leiden wir keinerlei Not! Dennoch ist mir dieses doch immer noch fremd gebliebene Bolivien – vorwiegend sind es die Einheimischen – nicht ganz geheuer. Man ist sich fremd und bleibt es auch, beäugt sich gegenseitig stets mit Misstrauen. Nicht dass wir besonders kultiviert wären, aber hierzulande herrschen ganz andere, für uns ungewohnte Sitten und sonderliche Gebräuche. Außerdem sind da meine Sprachhemmnisse. Ich habe mir zwar inzwischen einen ausreichenden Wortschatz angeeignet, um im täglichen Leben gut bestehen zu können, jedoch beherrsche ich das Spanische noch lange nicht. Und die Umgangssprache der Indios, das Aymara, klingt nach wie vor ungemein fremd in meinen Ohren.
Wenn ich täglich zum Einkaufen in den Mercado gehe und an so mancher Straßenecke die Cholas dabei beobachte, wie sie unter ihren weiten Polleras hocken und ungeniert ihre Notdurft verrichten, muss ich immer wieder angeekelt wegschauen! Ich wundere mich auch darüber, wie sie gelegentlich zu zweit am Boden hocken und gegenseitig die Haare nach Läusen absuchen. Besonders unappetitlich ist aber, dass sie, wenn sie so ein Insekt ausgemacht haben, es zwischen ihren Zähnen totbeißen. Pfui!
Leider sind auch die Männer ungemein aggressiv. Jeder kleine Rempler, wenn man aneinander vorbeigeht, wird sehr schnell zur haltlosen Prügelei! Die Kerle gehen sich wie wütende Kampfhähne an die Gurgel, vor allem dann, wenn sie Alkohol getrunken haben – was oft der Fall ist. Nachts hört man sie, wenn sie laut grölend und fluchend die Avenida Ecuador entlangtorkeln und wiederholt „Viva Bolivia, carajo!“ brüllen. Oft werden dabei auch obszöne Schimpfworte gegen Politiker, Ausländer oder Judíos – Juden – ausgerufen. Dabei kommt immer häufiger zum Ausdruck, die bösen Ausländer seien nur ins Land gekommen, um ihnen, den Einheimischen, das Brot aus dem Munde zu stehlen! Jedenfalls ist einem dabei nicht ganz wohl unter der Haut!
Auch Lissy trägt einiges bei, denn sie erzählt von Erfahrungen und Erlebnissen aus ihrer Kindheit und Jugendzeit.
„Was ich daraus insgesamt entnehme, ist, dass die von den sogenannten Weißen seit der spanischen Kolonialzeit geschundenen und über zwei Jahrhunderte bewusst niedrig gehaltenen Indios und Cholos verständlicherweise einen starken Groll und Rochus gegenüber allen Hellhäutigen In- oder Ausländern hegen“, fasst Nili als Fazit dieser Berichte zusammen. „Das dürfte nicht nur in Bolivien, sondern auch in Perú und Colombia nicht anders sein. Die dort nach wie vor bestehenden krassen Vermögensunterschiede zwischen Arm und Reich – ohne dazwischen eine ausreichende und gewachsene Mittelklasse als Balance – schüren gleichwohl Ablehnung und Antipathie der ‚Nichthabenden‘ gegen den oft protzigen Wohlstand der ‚Habenden‘. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass nun auch in Bolivien, wie zunächst Castro in Cuba, danach Chavez in Venezuela und seit einigen Jahren Boliviens Evo Morales’ sogenannte ‚Demokratiebewegung‘ eine solche Beliebtheit bei der indigenen Bevölkerung genießt. Aber gerade der Letztgenannte ist es doch, der sich hauptsächlich deren Rückhalt und Unterstützung mit der Legalisierung und Förderung des Coca-Anbaus erkauft hat. Nicht genug, dass die Gesundheit der eigenen Bevölkerung durch das regelmäßige Kauen der Blätter erheblich beeinträchtigt wird, verseuchen sie auch noch ihre eigene Umwelt durch die unsachgemäßen chemischen Manipulationen, um aus diesen Blättern das Kokain zu extrahieren! Und dieses Gift wird dann tonnenweise zu uns verfrachtet. Denke ich darüber nach, komme ich mir langsam wie ein Don Quijote im Kampf gegen die Windmühlen vor, denn solange bei uns ein Markt für diesen Schmutz vorhanden ist, werden sie ihn weiterhin liebend gern beliefern!“
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