Als alle satt sind, erhebt sich allmählich einer nach dem anderen vom Frühstückstisch, ein jeder hilft ein wenig beim Abräumen. Oliver und Nili bleiben mit ihren noch halb vollen Kaffeebechern sitzen.
„Und? Alles in Ordnung auf dem Holstenhof?“, fragt Nili.
„Ach ja, eigentlich schon. Die Milchquoten, die uns aus Brüssel vorgeschrieben werden, machen uns allerdings zu schaffen. Wir haben deshalb vor einem halben Jahr angefangen, die Überschüsse, die uns die Meierei nicht abnimmt, selbst zu verarbeiten und hier im Umkreis direkt zu vermarkten. Klappt eigentlich bestens, denn es hat sich rasch herumgesprochen, und Stefan und Carola wollen hier bald ihren eigenen Hofladen eröffnen, wir bauen dafür gerade eine der beiden Scheunen an der Auffahrt entsprechend um.“
Nili nickt zustimmend. „Finde ich ’ne prima Idee, Milch frisch von der Kuh direkt an den Verbraucher!“
„Na ja, ebenso Sahne, Butter, Frischkäse und Quark.“
„Und auch die frischen Eier aus der Bodenhaltung von Lissys Eulenhof könntet ihr verkaufen!“
So schwelgen sie eine Weile in ihren Plänen.
Plötzlich stürmt Oskar in die Wohnküche. Er hält ihnen seinen aufgeklappten Laptop hin. „Seht mal, hier ist die Nili auf der ersten Seite des Courier!“
Unter dem Titel „ZWEI FRAUEN NACH FEUER AUF EINEM BAUERNHOF TOT AUFGE-FUNDEN“ erscheint ein großes Farbfoto, auf dem hinter dem weiß-roten Polizeiabsperrband tatsächlich Nili deutlich inmitten der Einsatzleute vor dem Bauernhof zu sehen ist.
„Ach, sieh mal, hat mich also Jochen Ploog mit seinem Teleobjektiv doch noch erwischt!“ Sie hatte den Journalisten des Courier bereits bei der Anfahrt zum Tatort unter den vielen davor postierten Presseleuten bemerkt und ihm auch zugewinkt. Als sie aber später bemerkte, dass die Presseleute anfingen, Fotos zu machen, versuchte sie sich so gut es ging abzuwenden. Das war ihr wohl nicht ganz gelungen! Unter dem Foto ist ein magerer Bericht über das wenige zu lesen, das der zuständige Staatsanwalt Pepperkorn gegenüber der Presse verlauten ließ, nämlich dass die Polizei mehrere viel versprechende, heiße Spuren verfolge.
Die Nachricht über Nilis Foto in der Zeitung breitet sich wie ein Lauffeuer im Holstenhof aus. Bald sind alle wieder in der Wohnküche versammelt und bedrängen Nili, ihnen doch alles zu erzählen, was sie weiß.
„Tut mir ja so leid, ihr Lieben, aber viel mehr als das, was in der Zeitung steht, darf ich nicht erzählen, sonst krieg ich ’nen riesigen Zoff mit meinem Chef, okay?“
„Weißt du schon, wer der böse Mörder ist?“, fragt Sophie, die Jüngste im Kreise.
„Nein, leider noch nicht, aber wir haben so viele gute Hinweise auf die Täter und können deswegen hoffen, sie bald auszumachen.“
„Ach, dann sind es wohl mehrere, nicht wahr?“, folgert Oskar.
„Bist ganz schoin plietsch, mien Jung!“, bewundert ihn Nili und streicht liebevoll über seine strohblonden Haare.
Die ganze vergangene Woche, die ich in Kiel verbringen musste, war sehr anstrengend, und es war mühsam, aus den beiden festgenommenen – der Vorschriften halber muss man hierzulande bis zur endgültigen Überführung etwaiger Delinquenten unbedingt die drollige Bezeichnung „mutmaßlichen“ voranfügen – Drogendealern und der Mörderbande etwas Brauchbares herauszubekommen, vermerkt Nili in ihrem Tagebuch. Nachdem Oma Clarissa früher häufiger aus ihren Tagebüchern vorgelesen und Nili so viele interessante Begebenheiten aus der Familiengeschichte, aber auch von den ereignisreichen Tagen der Flucht aus Nazi-Deutschland und aus dem bolivianischen Exil der Großeltern, ihrer Mutter Lissy und Onkel Oliver erfahren hatte, regte sie dies ungemein an, diesem Beispiel Folge zu leisten. So begann sie in ihrem ersten Jahr am Hamburger Gymnasium damit und hielt in unregelmäßigen Abständen immer diejenigen Erlebnisse fest, die ihr bedeutend und erwähnenswert erschienen. Nach Antritt ihrer polizeilichen Karriere in Hamburg und vor allem wegen ihres unglücklich verlaufenen und abrupt beendeten Liebesverhältnisses mit einem vielversprechenden Pianisten hatte sie dies für längere Zeit unterbrochen. Als sie vor drei Jahren zur Kriminaloberkommissarin befördert worden und dann auch nach Oldenmoor zurückgekommen war, nahm sie sich fest vor, das Tagebuchschreiben wieder mit größerer Regelmäßigkeit aufzunehmen. Seitdem hält sie vor allem jene interessantesten Fälle schriftlich fest, mit denen sie in Berührung kommt. Allerdings tut sie dies nicht handschriftlich wie früher, sondern tippt ihre Aufzeichnungen auf der Tastatur ihres Laptops und speichert die Texte auf einer eigens dafür bestimmten und zur sicheren Aufbewahrung getrennten Festplatte.
Als Hauke und ich uns im Gebäude der Bezirkskriminalinspektion Blumenstraße beim Dienststellenleiter, dem Ersten Kriminalhauptkommissar Harald Sierck , und seinen beiden Mitarbeitern, den Kriminaloberkommissaren Sascha Breiholz und Steffi Hink, meldeten, war auch der Kieler Oberstaatsanwalt, Dr. Hinrich Harmsen, zugegen. Nachdem sich alle gegenseitig vorgestellt hatten, gab es eine umfassende Lagebesprechung, die von Waldi Mohr, der ein wenig später dazugestoßen war, geleitet wurde. Jeder Anwesende trug sein Teilwissen zu dem umfangreichen und sehr verzwickten Fall vor. Sascha und Steffi berichteten von dem tot aufgefundenen Ralph Westphal. Der Obduktionsbericht von Professor Kramm wurde vorgelesen; daraus ergab sich definitiv eine erhöhte Kokaindosis mit ungewöhnlich hoher Reinheit der Droge als Ursache für dessen Tod durch Herzversagen. Außerdem gab es deutliche DNA-Spuren auf der Kleidung des Toten, die auf wenige Stunden zuvor stattgefundenen Geschlechtsverkehr hinweisen. Wäre da nicht die kurz darauf erfolgte Festnahme der als hochgradig verdächtig eingestuften Drogenbande erfolgt und eine sehr wahrscheinliche Verwicklung wegen des Kontakts von mindestens zwei ihrer Dealer mit dem Toten gegeben, hätte man keine Handhabe zur Verfolgung eines vermeintlichen Tötungsdeliktes gehabt. Es war mein Hinweis über den Abstellort von Ralphs Fahrrad am Lübecker Hauptbahnhof, der die Spur zu der Drogenbande und letztendlich zu ihrer Festnahme führte. Die DNA wurde inzwischen identifiziert und wies eindeutig auf die festgenommene junge Palästinenserin hin. Hauke Steffens und ich berichteten von dem erfolgten Einbruch mit Fahrzeugdiebstahl, der nach Auffinden der beiden ermordeten und danach verbrannten Frauen in der Nähe Oldenmoors zufälligerweise zwei anderen Mitgliedern derselben Bande aufgrund der an diesem Tatort gesicherten Reifenspuren und Fingerabdrücke zweifelsfrei zugeordnet werden konnten. Auch die beiden Morde und die Brandlegung auf dem Bauernhof gingen auf das Konto der zwei Russen, denn die danach anlässlich der Kieler Razzia gefundene Makarov-Pistole trug die Fingerabdrücke des einen und konnte von der Ballistik zweifelsfrei dem in einem der Totenschädel gefundenen 9 mm-Geschoss zugeordnet werden. Schmauchspuren auf seiner Kleidung verdichteten dieses Indiz. Auch eindeutige Spuren von Superbenzin, das als Brandbeschleuniger verwendet wurde, hafteten an der Kleidung beider Verdächtigen. Oberstaatsanwalt Harmsen dankte uns allen für die gute Arbeit und äußerte sich über das zustande gekommene Resümee sehr zufrieden. Die zusammengetragenen Indizien reichten wohl für eine Anklage der beiden Russen wegen Einbruchs, Autodiebstahls und Mordes aus. Natürlich konnten auch die von Waldi Mohr aufgelisteten Funde an Drogen, Geld und Waffen im Versteck der Drogenbande zweifelsfrei all deren Mitgliedern zur Last gelegt werden. Schwieriger sei es allerdings – ohne eindeutige Geständnisse der Täter –, deren Verwicklung in einen willig herbeigeführten Tod des Ralph Westphal nachzuweisen. „Das ist wohl Ihre nächste Aufgabe, Frau Oberkommissarin Masal. Wie ich höre, besitzen Sie wertvolle Sprachkenntnisse, um vielleicht zwei der Festgenommenen zum Reden zu bringen. Vor allem wollen wir auch herausfinden, wer der festgenommene Lateinamerikaner wirklich ist und wie er in die Angelegenheit verwickelt ist. Fangen Sie am besten mit diesem Kerl an, lassen wir die Frau noch ein wenig schmoren. Sie dürften an diese schon wegen ihrer sie belastenden DNA an Westphals Kleidung sowieso leichter herankommen. Versuchen Sie es, viel Glück dabei!“
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