Entscheidend ist der Standpunkt, den man einnimmt. Vergleicht man die konstituierenden Elemente der Institution in verschiedenen Kulturen nach typologischen Gesichtspunkten, dann werden sich typische (d. h. mehreren genetisch nicht näher verwandten und kulturell voneinander unabhängigen Völkern gemeinsame) Merkmale erkennen lassen. Sehr seltene bzw. vollständig isolierte Elemente sind von einem solchen übergeordneten, global vergleichenden Blickpunkt aus als nicht typisch (als „atypisch“) anzusprechen. Verändert man nun seinen Standpunkt und betrachtet die zu untersuchende Institution aus dem Blickwinkel desjenigen Volkes, dessen Blutsbrüderschaft in einem oder in mehreren konstituierenden Elementen atypisch ist, dann freilich ist eben dieses Abweichen von der allgemeinen Norm gerade für dieses bestimmte Volk wiederum typisch und signifikativ. Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß man nur durch einen Wechsel der Blickrichtung zu einer solchen – eben nur scheinbaren – Doppeldeutigkeit gelangt. Durch die Berücksichtigung der verschiedenartigen Blickrichtungen verschwindet dieser scheinbare Widerspruch.
Doch darf man eines nicht außer acht lassen: die Erkenntnis der jeweils für ein bestimmtes Volk oder einen bestimmten Stamm typischen Elemente ist durch die Erkenntnis der (global vergleichend gesehen) atypischen Elemente bedingt. Nur dann, wenn ich erkannt habe, was allgemein betrachtet typisch oder atypisch ist, kann ich zur Konstatierung des jeweils Besonderen, für eine bestimmte Kultur Typischen vordringen. Ohne den ersten Schritt der Feststellung von typischen bzw. nicht typischen Merkmalen ist auch der zweite, die Erkenntnis des für eine bestimmte Kultur Typischen, nicht möglich.
Die Ausgangsbasis für diesen vergleichenden Teil der Arbeit bilden völkerkundliche Beschreibungen. Zweifellos besitzen dieselben recht unterschiedlichen wissenschaftlichen Wert; manche von ihnen stammen von Forschern oder Missionaren, die Jahre oder sogar Jahrzehnte bei ein und demselben Volk gelebt haben, andere wiederum geben nur den oberflächlichen Eindruck wieder, den europäische Reisende, die sich zufälligerweise einmal gezwungen sahen, mit einem Eingeborenenhäuptling Blutsbrüderschaft zu schließen, von dieser Einrichtung gewonnen hatten.
Besonders wichtig jedoch ist es, sich den Umstand vor Augen zu halten, daß alle unsere Berichte von Außenstehenden stammen, wenn auch zum Teil von Außenstehenden, denen die Mittel der modernen Forschung zu Gebote standen. Trotzdem (um nicht zu sagen: gerade deshalb) wird ihren Augen so manches, was sich nicht nach außen hin kundtut, verborgen geblieben sein. Dazu kommt außerdem noch die Tatsache, daß dann, wenn einer der Beteiligten ein Europäer war, bisweilen ein vereinfachtes Ritual verwendet wurde. 19Sicherlich wissen wir dank der ethnologischen Forschung über die Blutsbrüderschaften der sogenannten „primitiven“ Völker besser Bescheid als über dieselben bei längst erloschenen Kulturen wie etwa der heidnisch-nordgermanischen, wo wir ausschließlich auf Rekonstruktionen angewiesen sind. Es darf jedoch keinesfalls übersehen werden, daß auch die völkerkundlichen Untersuchungen unserer Zeit keineswegs frei von Deutungen und Wertungen sind!
Um eine gesicherte und leicht nachprüfbare Basis für alle weiteren Ausführungen zu schaffen, werden im folgenden diejenigen Stellen, aus denen sich Angaben über die Institution der nordgermanischen Blutsbrüderschaft entnehmen lassen, im originalen Wortlaut wiedergegeben.
Daran anschließend sollen die wesentlichen Elemente der einzelnen Belegstellen in Form von Tabellen zusammengestellt werden. Dies scheint insbesondere deshalb angebracht, weil sich manche der Abschnitte, die sich auf die Blutsbrüderschaft beziehen, naturgemäß ziemlich ähnlich sind, die wirklich gesicherten Elemente aber doch von Fall zu Fall variieren. Allerdings werden die Tabellen nur diejenigen Merkmale erfassen können, die an den betreffenden Stellen expressis verbis erwähnt werden und sie werden dementsprechend auch lediglich eine praktische Hilfe zu einer synoptischen Betrachtung der konstituierenden Elemente sein.
Weiters soll eine Situierung der einzelnen Belege den Stellenwert der Episode im Rahmen des Erzählgeschehens, dem sie entnommen ist, in Erinnerung rufen.
Zuerst sollen nur diejenigen Stellen angeführt werden, in denen tatsächlich von einer Vermischung des Blutes zwischen den sich Verbrüdernden gesprochen wird oder in denen zumindest auf eine solche angespielt ist. Wie aber bereits in der Einleitung angedeutet wurde 20, ist es praktisch unmöglich, diejenigen Stellen, die tatsächlich von einer Blutmischung sprechen, von solchen, die offenbar dieselbe Institution meinen, ohne aber eindeutige Hinweise auf das Ritual zu geben, abzugrenzen. Es wäre gewiß verfehlt, diejenigen Stellen, in denen die Blutmischung expressis verbis erwähnt wird, von solchen, welche die Annahme zulassen, daß es sich um dieselbe Institution gehandelt haben muß, zu trennen. Wie verfehlt eine solche Trennung wäre, zeigt sich unter anderem darin, daß der Terminus „fóstbrœðralag“ weit über die Grenzen der durch Blutmischung geschlossenen Brüderschaft hinausgeht 21: diejenigen Stellen, welche die Institution nicht nur umschreiben, sondern sie auch beim Namen nennen, verwenden durchwegs den Ausdruck „fóstbrœðralag“ 22. Andererseits konnte ein fóstbrœðralag z. B. nach Ausweis der Egils saga einhenda ok Ásmundar berserkjabana (Kap. IV) 23durch gegenseitigen Handschlag geschlossen werden: in einem solchen Fall ist wohl kaum an eine Blutmischung zu denken.
Es sollen daher im weiteren auch diejenigen Stellen mit in die Arbeit einbezogen werden, die den Schluß zulassen, daß den erwähnten Handlungen oder Konsequenzen ebenfalls die Institution des fóstbrœðralag zugrunde gelegen sein muß. Dies kann jedoch im Rahmen der gegenwärtigen Arbeit nur dann sinnvoll sein, wenn aus ihnen mehr zu entnehmen ist als bloß die Erwähnung der Tatsache, daß zwei oder mehr Personen eine „Brüderschaft“ geschlossen hätten, d. h., wenn sich in ihnen Angaben über das Verbrüderungsritual bzw. etwaige Konsequenzen finden. Bloße Erwähnungen der Institution, aus denen sich nichts weiter als ein Hinweis auf ihre Existenz entnehmen läßt, sind zwar insoferne aufschlußreich, als sie beim Leser oder Zuhörer die Bekanntschaft mit einer institutionalisierten Verbrüderungsart offenbar voraussetzen, indem sie nichts erklären oder veranschaulichen, sie sind aber für die gegenwärtige Arbeit, die sowohl eine deskriptive Darstellung als auch eine Deutung der nordgermanischen Blutsbrüderschaft anstrebt, völlig unergiebig und werden dementsprechend auch nicht als Belege gewertet.
A) DIE GERMANISCHEN BELEGE FÜR BLUTSBRÜDERSCHAFT
1. Lokasenna, Strophe 9
In der neunten Strophe der Lokasenna findet sich eine deutliche Anspielung auf die Einrichtung der Blutsbrüderschaft.
Loki betritt den Saal der Götter. Alle verstummen bei seinem Erscheinen. Bragi macht Loki darauf aufmerksam, daß er von niemandem zum Gelage der Götter geladen worden sei. Daraufhin wendet sich Loki an Odin und fordert ihn auf, sich zu besinnen, daß er mit ihm in der Urzeit sein Blut vermischt habe:
Mantu Þat, Óðinn, er við í árdaga
blendom blóði saman;
ölvi bergia léztu eigi mundo,
nema ocr væri báðom borit. 24
Diese Aufforderung hat zur Folge, daß Odin seinem Sohn Widar befiehlt, Loki Bier einzuschenken. Loki beginnt sogleich mit seinen Zankreden.
Sehr viel ist dieser Stelle nicht zu entnehmen: wir erfahren nur, daß Odin und Loki die Beteiligten waren, daß die beiden ihr Blut vermischt haben (við… blendom blóði saman), daß das erwähnte Bündnis „in alten Tagen“ (í árdaga) geschlossen worden war, und daß, wohl einer dem und inhärenten Konsequenz zufolge, der eine fortan dem anderen die Tischgemeinschaft nicht versagen dürfe.
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