„In der Kirche ist eine Scheidung der äußeren Ordnung vom Bekenntnis nicht möglich.“
b) Kirchenrecht folgt daher nicht einfach aus dem Umstand, dass die Kirche als (auch) menschliche Gemeinschaft gewisser Regeln des Zusammenlebens bedarf. Es ist somit kein „allgemeines soziologisches Ordnungsmodell“ wie das Recht anderer soziologischer Institutionen 19 , sondern auftrags- und damit bekenntnisgebunden. Grund und Grenze für alle menschliche Ordnung in der Kirche ist das Bekenntnis zum Herrn dieser Kirche 20 . Evangelisches Kirchenrecht ist daher auf das evangelische Bekenntnis verpflichtet: „Die Kirche bekennt sich zu ihrem Herrn auch darin, wie sie ihr äußeres Leben gestaltet“. 21
Letztlich ist dieser Bezug von Bekenntnis und Ordnung auch eine Rückbesinnung auf Art. 28 CA.
Dabei kann kirchliches Recht durchaus verschiedene Grade von Bekenntnisrelevanz aufweisen 22 . Das Sakramentsrecht, das Recht des Predigtamts und das Pfarrerdienstrecht, Lehrordnungen und das Recht der Kirchenmitgliedschaft stehen dem Bekenntnis wesentlich näher als andere Rechtsmaterien, wie zum Beispiel das kirchliche Finanz-, Haushalts- und Vermögensrecht, wobei aber auch bei Letzteren die dienende Funktion für den geistlichen Auftrag der Kirche besteht 23 . So kann die Kirche bei der rechtlichen Gestaltung einzelner Materien auch durchaus auf bewährte Rechtsinstitute weltlichen Rechts zurückgreifen oder diese modifizieren, wenn dies mit ihrem geistlichen Auftrag vereinbar ist. Zum einen lebt sie in einem bestimmten gesellschaftlichen Umfeld, „in der Welt“ 24 , und kann daher entsprechende staatliche Regelungen übernehmen. Zum anderen ist die Übernahme staatlichen Rechts auch eine Frage der Zweckmäßigkeit, „ein Mittel zum Zweck, mehr Zeit und Raum für ihr Wirken als Kirche für andere zu haben“ 25 .
Eine unkritische und undifferenzierte Übernahme weltlicher Gestaltungsformen kommt indes nicht in Betracht.
c) Die Erfahrungen des Kirchenkampfes während des „Dritten Reiches“ führten nach 1945 zu einer verstärkten Beschäftigung mit den theologischen Grundlagen evangelischen Kirchenrechts. Damals entstanden vor allem drei Grundlagenentwürfe, die mit den Namen Johannes Heckel , Erik Wolf und Hans Dombois verbunden sind. Diese können hier nur erwähnt, nicht aber näher vorgestellt werden 26 .
Die Überwindung des doppelten Kirchenbegriffs (Geistkirche und Rechtskirche, ecclesia invisibilis – ecclesia visibilis) und die Wiederentdeckung des ganzheitlichen Kirchenbegriffs in der Barmer Theologischen Erklärung und in diesen Grundlagenentwürfen führten zum Teil zu einem doppelten Rechtsbegriff 27 :
Nach der dualistischen Theorie des Kirchenrechts ist Kirchenrecht als eigenständiges und eigengeartetes Recht und damit ein Recht besonderer Art zu verstehen, welches qualitativ von allem unterschieden ist, was sonst als Recht bezeichnet wird. Demgegenüber geht die monistische Theorie des Kirchenrechts von einem einheitlichen, Staat und Kirche gemeinsamen Rechtsbegriff aus. Dies braucht hier indes nicht näher erörtert zu werden. Denn zum einen spielt diese Unterscheidung in der Praxis nicht dieselbe Rolle wie in der Theorie, zum anderen haben neuere Arbeiten gezeigt, wie der doppelte Kirchenrechtsbegriff aufgegeben werden kann, ohne dass das Kirchenrecht seine geistliche Prägung verliert, etwa in dem Gedanken vom „antwortenden Charakter“ des Kirchenrechts-Kirchenrecht als Antwort auf den Anruf des Evangeliums 28 .
Zusammenfassend kann dazu festgehalten werden: Das Kirchenrecht hat gegenüber dem allgemeinen Recht zwar besondere Voraussetzungen in der Gebundenheit an den Auftrag des Herrn und an das Bekenntnis. Als menschlich gesetztes Recht unterscheidet es sich in seiner Funktion als friedensstiftendes Ordnungsgefüge aber nicht derart vom allgemeinen Recht, dass es als etwas ganz anderes angesehen werden müsste. Indes bleibt Kirchenrecht inhaltlich immer auf den Auftrag der Kirche bezogen. (Nur) insoweit besteht keine Identität beider Rechtsordnungen und kommt dem Kirchenrecht innerhalb der Gesamtheit des Rechts eine besondere Rolle zu, als es die ihm eigenen Bindungen nicht aufgeben kann und darf 29 .
Weiterführende Literatur:
W. Aymans/K. Mörsdorf, Kanonisches Recht Bd. 1, Paderborn, München, Wien, Zürich 1991, S. 1 ff.;
A. v. Campenhausen, Das Problem der Rechtsgestalt in ihrer Spannung zwischen Empirie und Anspruch, in: A. Burgsmüller (Hrsg.), Kirche als „Gemeinde von Brüdern“ (Barmen III) Bd. 1, Gütersloh 1980, S. 47 ff.;
W. Dantine, Recht aus Rechtfertigung, Jus Eccl. 27, Tübingen 1982; ders., Skizze einer Theologie des Rechts, ZevKR 23 (1979), S. 365 ff.;
H. de Wall/M. Germann, Grundfragen des evangelischen Kirchenrechts, in: HevKR (A.), § 1 (S. 3–80);
H. Dombois, Recht der Gnade. Ökumenisches Kirchenrecht. 3 Bände, Witten 1961, Bielefeld 1974 und 1983;
R. Dreier, Methodenprobleme der Kirchenrechtslehre, ZevKR 32 (1987), S. 289 ff.;
D. Ehlers, Rechtstheologische und säkulare Aspekte des evangelischen Kirchenrechts, in: R. Bartlsperger/D. Ehlers/W. Hofmann/D. Pirson (Hrsg.), Rechtsstaat, Kirche, Sinnverantwortung. FS. K. Obermayer, München 1986, S. 275 ff.;
M. Germann, Der Status der Grundlagendiskussion in der evangelischen Kirchenrechtswissenschaft, ZevKR 53 (2008), S. 375 ff.; ders., Wem dient das kirchliche Recht? Praktische Theologie 43 (2008), S. 215–225;
G. Grethlein, „Dem Frieden und der guten Ordnung dienen“. Überlegungen zum Recht in der Kirche, Nachrichten der ELKiB 1979, S. 121 ff. (= vor RS 1);
S. Grundmann, Zur Einführung: Evangelisches Kirchenrecht, Jur. Schulung 1966, S. 466 ff. (= ders., Abhandlungen zum Kirchenrecht, Köln, Wien 1969, S. 1–17);
J. Heckel, Lex charitatis. Eine juristische Untersuchung über das Recht in der Theologie Martin Luthers, München 1953, 2. Aufl. Köln, Wien 1973;
M. Heckel, Summum Ius – Summa Iniuria als Problem reformatorischen Kirchenrechts, in: ders., Gesammelte Schriften, Jus. Eccl. 38, Tübingen 1989, S. 82 ff.; Evangelische Freiheit und kirchliche Ordnung, Evangelische Freiheit und kirchliche Ordnung. – Kirchenrechtliche Perspektiven, in: Evang. Landessynode in Württemberg (Hrsg.), Evangelische Freiheit – Kirchliche Ordnung. Beiträge zum Selbstverständnis der Kirche, Stuttgart 1987, S. 72–104 (92), jetzt auch in: ders., Gesammelte Schriften, Jus. Eccl. 38, Tübingen 1989, S. 1099 ff.; ders., Martin Luthers Reformation und das Recht, Jus Eccl. 114, Tübingen 2016.
E. Herms, Das Kirchenrecht als Thema der theologischen Ethik, ZevKR 28 (1983), S. 199 ff.;
W. Huber, Die wirkliche Kirche, in: A. Burgsmüller (Hrsg.), Kirche als „Gemeinde von Brüdern“ (Barmen III), Bd. 1, Gütersloh 1980; ders., Folgen christlicher Freiheit. Ethik und Theorie der Kirche im Horizont der Barmer Theologischen Erklärung, 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn 1985, S. 147 ff.;
H.-P. Hübner, Die lutherische Kirche und das Recht, in: Jahrbuch des Martin-Luther-Bundes 2005, S. 213–236;
Chr. Link, Rechtstheologische Grundlagen des evangelischen Kirchenrechts, ZevKR 45 (2000), S. 73 ff.;
W. Maurer, Die Kirche und ihr Recht. Gesammelte Aufsätze zum evangelischen Kirchenrecht, hrsg. v. G. Müller und G. Seebaß, Jus. Eccl. 23, Tübingen 1976;
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G. Rau/H.-R. Reuter/K. Schlaich (Hrsg.), Das Recht der Kirche Bd. 1 – Zur Theorie des Kirchenrechts, Gütersloh 1997, u.a. mit Beiträgen zum Kirchenbegriff des Kirchenrechts und zum Rechtsbegriff des Kirchenrechts von H.-R. Reuter, H. Folkers, W. Bock, R. Dreier und P. Landau;
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