Besonders anschaulich wird Luthers Auffassung von Stellenwert und Notwendigkeit rechtlicher Ordnungen in der Kirche in seiner Vorrede zur deutschen Messe von 1526. Dort stellt er fest:
„Summa, dieser und aller Ordnung ist also zu gebrauchen, dass wo ein Missbrauch draus wird, dass man sie flugs abtue, und eine andere mache – denn die Ordnungen sollen zur Förderung des Glaubens und der Liebe dienen, und nicht zum Nachteil des Glaubens. Wenn sie nun das nicht mehr tun, so sind sie schon tot und abgetan, und gelten nichts mehr, gleich als wenn eine gute Münze verfälscht, um des Missbrauchs willen aufgehoben und geändert wird, oder als wenn die neuen Schuh alt werden und drücken, nicht mehr getragen, sondern weggeworfen und andere gekauft werden. Ordnung ist ein äußerlich Ding, sei sie so gut sie will, so kann sie zum Missbrauch geraten, dann aber ist's nicht mehr ein Ordnung, sondern ein Unordnung, darum steht und gilt keine Ordnung von ihr selbst etwas, wie bisher die päpstlichen Ordnungen gerichtet sind gewesen, sondern aller Ordnung Leben, Würde, Kraft und Tugenden ist der rechte Gebrauch, sonst gilt sie und taugt gar nichts.“ 8
Die Rechtsordnung wird also durch Luther in keiner Weise missachtet oder gering geschätzt, sondern vielmehr in die Reihe notwendiger Gebrauchsgegenstände eingeordnet, die allerdings niemals zum Selbstzweck werden dürfen. 9 Nicht zuletzt ist Luther die friedensstiftende Funktion des Rechts bewusst, wie sie insbesondere in Art. 15 und 28 CA angesprochen wird. Danach bedarf es rechtlicher Ordnungen, die „dem Frieden und der guten Ordnung in der Kirche dienen“, schon deshalb, „damit in der Kirche keine Unordnung und kein wüstes Treiben sei“ – aber eben nicht, um damit Gottes Gnade zu erlangen. Sie sind „um der Liebe und des Friedens willen“ zu halten.
So sind bereits zu Lebzeiten des Reformators, teilweise unter seiner Mitwirkung, zahlreiche Kirchenordnungen entstanden, die in Form einer Agende Zeit, Verlauf und Inhalt des Gottesdienstes sowie die Besetzung kirchlicher Ämter regelten, aber auch Bestimmungen u.a. über die Besetzung kirchlicher Ämter, den Schulunterricht, die Armenfürsorge oder Ehesachen enthielten. 10
Luther hat selbst immerhin acht solcher Kirchenordnungen verfasst, die allerdings ausschließlich jus liturgicum , aber keinerlei organisationsrechtliche Bestimmungen enthalten: Es handelt sich dabei um drei Gottesdienstordnungen, zwei Taufordnungen, zwei Ordinationsordnungen und eine Trauordnung. 11 Kirchenordnungen mit juristischem Inhalt hat er nicht hinterlassen. Dass er aber durchaus Regelungsbedarf für äußere Dinge gesehen hat, zeigt sich an der von ihm inspirierten und mit einem Vorwort versehenen Leisniger Kastenordnung (1523) 12 , deren Anliegen es war, die zwecklos gewordenen Stiftungen des altkirchlichen Kultus – insbesondere die Stiftungen für Seelenmessen – einer neuen sinnvollen Bestimmung zuzuführen und in einem „Gemeinen Kasten“ zu zentralisieren. 13
Im Übrigen aber hat Luther den organisatorischen Ausbau der Kirche im Einzelnen anderen überlassen, von denen die Gesetzgebungsarbeit im technischen Sinne geleistet wurde. In diesem Zusammenhang ist vor allem Johannes Bugenhagen (1485–1558) zu nennen, der das Kirchenwesen nicht nur einer Anzahl norddeutschen Territorien, sondern auch Dänemarks maßgeblich gestaltet hat.
Im Ergebnis gehen auf Luther zwar nicht Einzelheiten, aber tragende Grundsätze des kirchlichen Verfassungsrechts zurück. Zu diesen Grundsätzen gehört insbesondere auch, dass kirchliches Recht in seiner dienenden Funktion gegenüber dem Verkündigungsauftrag, als „Recht der Liebe“ ( „res publica ecclesiastica unica lege caritatis instituta est“ ) nicht von Macht, sondern vom Gebot der Liebe und dem Gedanken des Dienstes getragen sein soll. 14
Als Dienst versteht Luther vor allem den Dienst des Landesherrn, dessen Autorität er nach dem Wegfall der kirchlichen Obrigkeit für die Durchführung der Visitation in Anspruch nimmt, als Notbischof, welchen dieser nicht kraft seiner weltlichen Herrschaftsgewalt, sondern – übrigens nach dem Rat der Theologen – als hervorgehobenes Mitglied der Kirche ausüben soll. Nur in diesem Sinne war ein landesherrliches Kirchenregiment für Luther akzeptabel. Spätere Begründungen des landesherrlichen Kirchenregiments, insbesondere das Territorialsystem , wonach der Landesherr schon aufgrund seiner Territorialgewalt die Herrschaft auch über die Kirche oder gar ein ius papale für sich in Anspruch nahm, hätte er nicht gebilligt. Wie auch immer: Dadurch, dass Luther die praktische Durchführung der Reformation auch angesichts der damals weitgehenden Identität von Bürger- und Christengemeinde der weltlichen Obrigkeit überließ, wurden die Organisationsstrukturen des lutherischen Kirchenwesens zum Gegenstand des staatlichen Rechts.
Eine intensivere Beschäftigung des Luthertums mit dem Kirchenrecht und der Kirchenverfassung setzte erst ein, als die konfessionelle Geschlossenheit der deutschen Territorien infolge der Napoleonischen Kriege aufgebrochen wurde und sich – wie z. B. in Bayern – lutherische Kirchengemeinschaften in fremdkonfessionell regierten Staaten wiederfanden. Ein bleibendes Verdienst von ausgesprochenen Vertretern des lutherischen Konfessionalismus, allen voran von Wilhelm Löhe , ist es, dass sie in besonderem Maße Fragen der Kirchenverfassung thematisierten und lange vor dem Ende der Monarchie die Ablösung des landesherrlichen Kirchenregimentes forderten. 15
4.Der Rechtsbegriff Rudolph Sohms
In ähnlicher Weise zu relativieren ist die Berufung auf Rudolph Sohm, wenn kirchliche Ordnungen in Frage gestellt werden. Sohm geht von einem spiritualistischen Kirchen- und einem rein positivistischen Rechtsbegriff aus. Sohm sieht die Kirche allein als unsichtbare Größe, als ecclesia invisibilis , das Recht dagegen allein als von der staatlichen Gemeinschaft gesetztes, mit Zwangscharakter ausgestattetes Recht. Ein derart formaler und positivistischer Rechtsbegriff ist in der Tat mit dem Wesen der Kirche nicht vereinbar, zumal wenn diese nur als geistliche Gemeinschaft verstanden wird, deren irdische Schauseite aber völlig ausgeblendet beziehungsweise sogar geleugnet wird. 16 Sowohl der Rechts- als auch der Kirchenbegriff, wie Sohm sie verstanden hat, gelten heute als überwunden. 17 Gleichwohl bleibt Sohms These eine ständige Anfrage und Mahnung an das evangelische Kirchenrecht.
5.Neubesinnung auf das Wesen des evangelischen Kirchenrechts
a) Zu einer Neubesinnung auf das Wesen des evangelischen Rechts kam es nach 1918, als sich die evangelischen Landeskirchen nach dem Ende des landesherrlichen Kirchenregiments eigenständig zu organisieren und rechtlich zu ordnen hatten, vor allem aber während des „Dritten Reiches“ in der Auseinandersetzung der „Bekennenden Kirche“ mit den „Deutschen Christen“, die eine Übernahme nationalsozialistischer Prinzipien, wie z. B. des Führerprinzips, in der Kirche forderten.
Bei der Barmer Bekenntnissynode von 1934 wurde demgegenüber in der 3. These ihrer Theologischen Erklärung bekannt, dass
–die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen nicht von der äußerlich organisierten, rechtlich geordneten Kirche zu trennen ist, und
–die äußere Ordnung und Gestalt der Kirche keine gleichgültigen Dinge sind, mit denen man beliebig verfahren und die man unbesehen am weltlichen Recht, wie es Vereine oder politische Körperschaften auch haben, ausrichten könnte, sondern die in erster Linie an Selbstverständnis und Auftrag der Kirche gebunden sind.
In der korrespondierenden These 3 der Barmer Erklärung zur Rechtslage der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche vom 31. Mai 1934 18 wird dies dahingehend zugespitzt:
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