Simo nickte.
»Sie sagte es mir. Und ich habe die Narbe gefühlt.« Die Augen Simos weiteten sich.
»G’fühlt? Wie?«
»Ich darf dir nicht alles erzählen. Ich weiß, dass der Chip da ist. Ich weiß, dass Domina Hero einen Zugriff darauf hat. Die Schlange ist ein Sklave Der Zehn.« Erneut flüsterte er: »Wie auch wir Sklaven Der Zehn sind.«
Noch immer hielt der Kleine die Handgelenke fest. In seinem Kopf arbeiteten die Gedanken, entstanden neue Fragen. Doch Simo fragte nicht.
Stattdessen ergriff Juli noch einmal das Wort: »Was nun, Simo? Wollen wir Freunde sein? Vielleicht darf ich dir dann mehr erzählen. Vielleicht bist du dann bereit dazu, ein wenig mehr von der Wahrheit zu erfahren.«
Simo zögerte kurz, kletterte schließlich von Juli herunter und zog sich rasch den Pelz über Oberkörper und Kopf. »Muss eilen zu 01-Spundgruppenführer-Elia.«
Auch Juli erhob sich, rieb sich die Handgelenke und klopfte Laub und Dreck aus seinem Pelz. »Du hast dich nie dafür bedankt, dass ich dir dein Leben gerettet habe.« Das war mit Sicherheit keine Frage.
Simo antwortete auch darauf nicht, sondern rannte unvermittelt los.
Juli hatte große Mühe, dem Kleinen zu folgen. An einem Hang sah er Simo zweihundert Schritte vor sich.
Der stand breitbeinig da, zu ihm gewandt, und rief: »Hab viel Sonnenschein g’sehn, drüben in mein Tod! Du aber, dummer Spritzpimmel, bracht’s mich zurück ins Eiskaltland! Und willst wohl jetzt noch Dank dazu?«
»Verdammt noch mal, du winziger klugscheißender Hosenfurz! Es gibt nichts Wertvolleres als das Leben, Simo! Kannst du das nicht kapieren oder willst du es einfach nicht?«, schrie Juli dem Kleinen nach, der sich wieder in Bewegung gesetzt hatte und weiter den Hang erklomm. »Jetzt warte doch!«
Juli hetzte sich ab, doch er erreichte Simo bei diesem Test nicht mehr. Der kleine quirlige Kerl war einfach schneller und überquerte lange vor ihm einen umgestürzten Baum, der über einen tiefen Abgrund führte.
Juli folgte ihm, vorsichtig balancierend, und kletterte auf der anderen Seite eine äußerst steile Wand hinauf, die nur wenig Halt bot. Kurz bevor er das Plateau erreichte, bröselte ein Vorsprung unter seinem linken Fuß weg. Der Zwölfjährige verlor den Halt, krallte sich an einem Vorsprung fest und ruderte auf der Suche nach einem erneuten Halt heftig mit den Beinen. »Simo!«, brüllte er. »Simo, ich stürze ab! Hilf mir, Simo!« Seine Bewegungen wurden hektischer, als er bemerkte, dass der Pelz ihn daran hinderte, den Absturz mit den Händen zu verhindern. Der sichere Tod war nah. »Simo, komm zurück! Bitte!«, flehte Juli mit schwindender Kraft. »Bitte, Simo!«
In jenem letzten Moment des Halts griffen zwei Hände von oben zu und zerrten Juli mit kräftigem Schwung hinauf auf das Plateau. Übel gelaunt und um Atemluft ringend lag der Junge da und schaute hinauf in die geschminkten Augen der Rottenführerin Python, die in ihrer schwarzen, glänzenden Uniform mit den leuchtend weißen Streifen breitbeinig über Juli stand.
»Gut gemacht«, sagte die. »Doch pass besser auf dich auf. Denn tot wirst du der Sache herzlich wenig nützlich sein.« Daraufhin wandte sich die kolossal wirkende Frau ab und lief mit ruhigen Schritten über das moosige Felsgestein davon.
Juli lag am Rande des Abgrunds, blickte in den blauen Himmel und zögerte damit aufzustehen.
»Hab viel Sonnenschein g’sehn, drüben in mein Tod!«, hörte er Simos hohe Stimme rufen. Wie schlimm stand es um die Welt, wenn ein kleiner Kerl, wie Simo einer war, den Tod dem Leben vorzuziehen gedachte? Es wurde höchste Zeit, den Kleinen aus dem tiefen Wasser zu ziehen und ins Boot zu hieven. Höchste Zeit!
Neumoskau: Angriff der Spunde
»Schau’s dir an! Noch Kinder sind’s, und sehr ganz junge dazu!« Jonathan hockte auf dem Hochstand und blickte hinunter auf das weite, unbestellte Feld. Zu Tausenden kamen sie durch das weglose Land gelaufen, trugen nur ihre Rückensäcke und die Waffen. Dazwischen fuhren brüllend die gewaltigen Fahrzeuge.
»Sind BAT2000«, flüsterte Tatjana neben ihm. »Sind ohne Waffen.«
»Wenn’s kommen zu uns, ist’s aus. Viel zu viele sind’s, die da gehen.«
»Muss los!« Tatjana schickte sich an, von dem Hochstand zu klettern.
»Was willst?«, fragte Jonathan.
»Muss warnen! Unser Stadt muss still sein!« Jonathan folgte dem sechsundzwanzigjährigen Mädchen, das geschwind die Leiter hinunterkletterte. Gebückt liefen sie im Gras der weiten Landschaft nebeneinander zum Waldsaum.
Jonathan war dreißig, Vater eines kleinen Jungen, Mann von Tatjana, die er hier im Rückzugsraum der Abtrünnigen kennengelernt hatte, die ihm, dem schwarzen Mann, wie er von allen genannt wurde, einen Jungen geschenkt hatte, deren geschmeidigen Körper er liebte und deren Klugheit er verehrte.
Eines fernen Tages war Jonathan aus dem Gebiet der Grenze zwischen EDR und Morgenland geflüchtet. Dort lauerte ständig die Gefahr durch Spunde. Zwar griffen sie nie sein Dorf direkt an, doch sie waren fortwährend in der Nähe. Jonathan ging gen Norden. Fünf Jahre dauerte seine Reise, die ihn in verschiedene Siedlungen und Verstecke der Abtrünnigen brachte. Doch überall lauerte der Tod. Immer wieder tauchten Horden von Spunden auf, machten alle Abtrünnigen auf Geheiß Der Zehn nieder. Jonathans Augen sahen unzählige zerfetzte Leichen. Nie ging es um die Eroberung von strategischen Objekten, stets nur darum, die Abtrünnigen auszurotten.
An einem eiskalten Wintertag erreichte er diese Kolonie. Sie war gewaltig. Abtrünnige hatten eine alte Stadt inmitten eines gigantischen Waldgebietes gesichert, gelangten auch in den Besitz verbotener Waffen. Die Gegend nannten sie »Russisches Becken«. Im Osten versperrte das gewaltige Ural-Gebirge den Weg, im Westen, jenseits des Waldgebietes, existierten unendliche flache, zumeist weit einsehbare Ländereien. Es gab genügend Tiere, die gejagt und gegessen werden konnten, Früchte von Bäumen und auch bestellte Felder, auf denen Weizen wuchs. In der Stadt existierten sogar Forschungsstationen, die das Wetter voraussagen konnten. Ein altes, wiedererrichtetes Wasserkraftwerk erzeugte Strom für die Stadt. Errungenschaften der Vorkriegsgeneration wurden brauchbar gemacht, Kleidung und andere Erzeugnisse hergestellt. Viele der Abtrünnigen kamen aus dem Westen. Einige brachten die Erinnerung an eine große Metropole mit, die der Krieg in Schutt und Asche verwandelt hatte. Deshalb erhielt die Enklave den Namen »Neumoskau«.
In den Augen Der Zehn wurde die gewachsene Stadt der Abtrünnigen zur Bedrohung. Immer wieder rückten Spundeinheiten gegen die Stadt vor, doch sie wurden unter hoher Opferbereitschaft von den Abtrünnigen mit alten Waffen vertrieben.
*
Erschöpft erreichten Jonathan und Tatjana das Tor. Ein gewaltiges Brummen, erzeugt durch die Turbinen der BAT2000, lag in der Luft.
»Gebt Ruhealarm! Horden von Spunden nähern sich! Tausende sind’s!«, riefen beide den Torwächtern zu.
Sekunden später wurden die Nebelkanonen aktiviert. Weißer, künstlicher Nebel kroch durch die Gassen, hüllte Neumoskau ein, als wäre er ein natürliches Produkt von Wasser und Sonne. Die Menschen wussten nun, dass sie jeden Lärm vermeiden sollten. Und wäre es des Nachts geschehen, hätten sie die Stadt verdunkelt. Doch jetzt war Tag. Einige Wolken verdeckten die Sonne, ein wenig Nebel war überall.
Die beiden erreichten das Wohnhaus, ein mehrstöckiges Gebäude, in dem sie in zwei Räumen der ersten Etage untergebracht waren.
Paul saß unter dem Tisch. Der Vierjährige versteckte sich immer unter dem Tisch, wenn er den Nebel sah, denn nur dort fühlte der Junge sich sicher.
Sogleich hockte sich Tatjana neben Paul und drückte den zitternden Kleinen fest an sich. Sie war hier geboren, sie kannte keine andere Welt. Deshalb kroch die Angst, beginnend bei ihren Füßen, hinauf in ihren Körper und übertrug sich auf ihn, als wäre sie eine furchtbare Krankheit. Tatjana drückte Paul so fest an sich, als müsste der Kleine sie beschützen.
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