Ein junger Mann trug riesige Stapel von Zeitungen ins Freie. Tageszeitungen, Wochenmagazine, Monatsausgaben, Sonderhefte. In Kartons lagerten Ausschnitte aus diversen Printmedien. „Nichts als Unglück“, bemerkte ein Seuchenfachmann im Vorbeigehen, als sein Blick auf einem verrutschenden Papierstoß kurz verharrte. „Er muss sich geweidet haben an Katastrophenmeldungen, Verbrechen, Massakern aller Art“, nickte der junge Mann im Weitersortieren des ohnehin zum Vernichten bestimmten Papiergebirges.
Manche Schrecklichkeiten blieben selbst ihm sonderbarerweise länger im Gedächtnis als andere. Die Bergleute, die in der südamerikanischen Mine so lange verschüttet gewesen waren. Dieses ungewisse Ausharrenmüssen in der Tiefe, in der Dunkelheit. Das gesunkene U-Boot in der Barentssee. Er hatte die Seiten mit den Fotos der ertrunkenen Mannschaft aus der Zeitung geschnitten und aufbewahrt. Die jungen russischen Männergesichter voller nicht zu Ende erzählter Geschichten. Die Panik in der beklemmenden Enge. Das sichere Erwarten des eigenen Todes. Später einmal wollte er die Ausschnitte einordnen. Nach Themen sortieren. In Ordnern abheften. Um alles griffbereit zu haben. Das Unglück der anderen, das das eigene plötzlich klein und nichtig erscheinen ließ. Die fremden Katastrophen, die den Blick zurechtrückten, ein nützliches Korrektiv darstellten zur eigenen weinerlichen Wehleidigkeit. Manche Tierbilder waren auch liebgewordene Erinnerungen. Zu wenige natürlich. Es hätten mehr sein können. „Ich hätte noch ein paar mehr retten können!“, ruft Oskar Schindler gegen Ende des Spielberg-Films verzweifelt aus. Das Gefühl war ihm mehr als bekannt.
Er hätte nur ein wenig mehr Zeit gebraucht. Irgendwann wollte er schließlich Ordnung in das alles bringen. In Wahrheit hatte er doch nie etwas aufgehoben, das es nicht auch wert gewesen wäre, aufgehoben zu werden. Ein Außenstehender mochte das möglicherweise nicht verstehen, denn es konnte ja keiner hineinsehen in seinen Kopf, wo schon alles aufgeräumt war, wo er schon deutlich alles in schönster Ordnung archiviert und griffbereit verstaut wusste. Ganz genau konnte er sein zukünftiges Leben bereits vor sich sehen. Die Zeitungsstapel würden zwar nicht alle verschwinden, aber nach sorgfältiger Durchsicht doch erheblich geschrumpft sein. Es stand schließlich so viel Nützliches, Wissenswertes und Hochinteressantes in all den Zeitschriften, Broschüren und Magazinen. Einige davon lagen sogar gratis irgendwo in der Öffentlichkeit auf. Da musste man doch zugreifen. Psychologische Beratung. Vorsorge und Hilfe im Trauerfall. Früherkennung von Darmkrebs. Die besten Lebensmittel für gesteigerte Leistung und mehr Aktivität. Bus-, Flug- und Schiffsreisen für Singles, Gruppen und Familien. Homöopathie für Haustiere. Die wichtigsten Rechtsbeistände und Steuerberater im handlichen Folder. Honig – ein kostbares Gut. Klassische Klavierkonzerte unter freiem Himmel. Die besten Neuerscheinungen am Büchermarkt. Sommerliche Gemüserezepte für Gäste. Das alles konnte man doch gut gebrauchen. Und wenn nicht jetzt, dann später einmal.
Die vielen praktischen Tipps mussten natürlich erst einmal ausgeschnitten und sortiert werden. Dann konnte er sie in Hefte kleben. Die vielen Berichte und Reportagen über ferne Länder, interessante Völker, spektakuläre wissenschaftliche Entdeckungen und erstaunliche Naturphänomene würden eigene Ordner füllen. Wie auch die vielen, überaus lesenswerten Portraits faszinierender Persönlichkeiten, von denen man viel lernen konnte. Über die Kunst und das Leben.
Letztlich war es um sehr, sehr viele Dinge schade. Er wusste, andere Leute warfen alles Mögliche weg, ohne darüber nachzudenken, es war nicht umsonst eine Wegwerfgesellschaft, in der er lebte. Doch ihm wollte dieses Wegwerfen nicht gelingen. Und warum sollte es auch? Was man wegwarf, war schließlich nicht wirklich „weg“, sondern nur woanders. „Weg“ gab es gar nicht. Also konnte er die Sachen doch gleich behalten. Es steckte letzten Endes selbst in den unscheinbarsten Dingen so etwas wie ein Wert. Material. Arbeit. Zeit und Geld. Irgend jemand hatte doch auch die ganzen Gewinne und Gratisüberraschungen der Versandhäuser erfunden und herstellen lassen, verpacken, versenden. Jeder Karton konnte später einmal noch zu etwas nütze sein. Er selber verwendete viele davon zum Zwischenlagern der zukünftigen Ordnungshelfer. Klarsichthüllen, Stell- und Ringordner, Flügelmappen, leere Hefte in allen Formaten, Alben, Klebstoff, Karteikästen, Index- und Trennblätter, Locher, Schmucketiketten warteten nur mehr darauf, endlich ihre Regale und Kästen zu bekommen, in denen sie eines Tages ihre vorbildliche archivarische Büroordnung verströmen durften. Die Videos mussten noch alle genau beschriftet und katalogisiert werden, solange es noch Videogeräte zum Abspielen gab. Es liefen doch im Fernsehen immer wieder wissenswerte und lehrreiche Dokumentationen, oder auch schöne Filme. Jedes Käsepapier konnte man später eventuell noch einmal gebrauchen, und sei es nur als Unterlage für eine Stelle, die tropft.
Natürlich, manches hätte er beiseite räumen müssen. Die verdorbenen Lebensmittel im Kühlschrank, das verschimmelte Obst in den Laden, das schmutzige Geschirr, den tatsächlichen Müll. Aber dafür würde er Ruhe brauchen. Ruhe und viel Zeit. Denn wenn, dann wollte er alles gründlich machen. Die entlegensten Winkel sauberschrubben. Alle leeren Behältnisse reinigen und nach Größe und Gebrauchszweck lagern. Die zahllosen Säcke, Taschen, Kisten und Körbe ausräumen. Jeden einzelnen Gegenstand darin in die Hand nehmen und genau prüfen, wofür er noch Verwendung finden konnte. Die Elektrogeräte auf ihre Funktionstüchtigkeit untersuchen. Alles mit Batterien kontrollieren und, wenn nötig, die entsprechenden Batterien ersetzen. Die Fotos einkleben. Die Bücher nach einem ganz bestimmten System in eine längst fällige Bücherregalwand einsortieren. Die Lebensmittel nach ihrem Ablaufdatum kontrollieren. „Neu“ stand schließlich auch auf alten Produkten. Manches war aber auch lange noch dem Verfallsdatum noch genießbar, das musste man eben weiter vorne einschlichten.
Die Kleidung dann. Er würde etwas spenden davon. Bevor allerdings niemand etwas davon trug und alles stattdessen zerschnitten und verbrannt wurde, war es doch schade. Vor allem um einige wirklich schöne Stücke. In einem erstklassigen Herrenanzug von feinster Qualität steckte eine Menge Arbeit. Sowas gab man doch nicht einfach weg, nur weil es aus der Mode kam. Und das Meiste ließ sich immerhin noch bequem zuhause auftragen. Ausgeleierte Pullover, verwaschene Hemden, abgetragene Hosen konnten als Arbeits- oder Freizeitbekleidung noch gute Dienste leisten. Und zerschlissene Unterwäsche gab hervorragende Putzlappen ab. Und zu putzen würde dann, nachdem die Ordnung Einzug gehalten hatte, genügend bleiben. Die Putzmittel standen schon bereit wie die königliche Garde. Die alten Zahnbürsten harrten schon der schmutzigen Fugen. Die Senf- und Farbeimer mussten nur noch ausgewaschen werden, schon konnten sie ihren zweiten Bildungsweg als Putzkübel starten. Die zahllosen Plastiksackerln würden dankbar sein für jeden Unrat, den man ihnen anvertraute.
Paradiesische Zustände würden das dann sein, wenn endlich alles geordnet, aufgeräumt und sauber war. Da konnten die langen, gemütlichen Herbst- und Winterabende schon kommen. Lesestoff gab es schließlich genug. Und das wusste er, dass er mit den Zeitungen beginnen würde. Das waren die allerhöchsten Türme.
Wem beim Anblick der Tierseite in der Tageszeitung das Herz nicht weich wurde oder fast brach, der hatte keins. Diese erschütternden Schicksale der Tierheimbewohner, die um ein neues Zuhause flehten, konnten niemanden kalt lassen. Die Fotos waren schon schlimm genug. Aber erst die kurzen Texte zu den Bildern hatten ihm regelmäßig den Rest gegeben.
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