Schrecklich, einfach schrecklich, alles. Und da war keiner, der ihn verstand. Wenn er mit anderen über diese furchtbaren Dinge sprechen wollte, bei der Arbeit, in einer Pause, oder in der Freizeit, privat, dann sah er sich stets nur mit genau zwei Reaktionen konfrontiert. Entweder starrte man ihn ungläubig, ja fassungslos an, außerstande zu begreifen, weshalb ein Mensch sich über derlei Tatsachen auch nur einen Augenblick lang den Kopf zerbrechen konnte, gerade so, als wäre er ein Marsmensch, oder hätte wenigstens zugegeben, an dergleichen zu glauben. Oder man beschwichtigte ihn mit erbärmlichem Floskelgeschwätz. Das begann schon in der Kantine, wo er mit schöner Regelmäßigkeit um eine vegetarische Mahlzeit bat. Was hatte er sich da sein ganzes Berufsleben lang alles anhören müssen! Von der fast rührenden, zum Gotterbarmen naiven Mitteilung, die Tiere würden genauso geschlachtet werden, auch wenn er auf ihr Fleisch verzichtete, bis zum nahezu brüsken Vorwurf, er sei mitverantwortlich für das Bauernsterben und denke wohl kein bisschen an die vielen Arbeitsplätze in der fleischverarbeitenden Industrie. Er ließ all den Spott, die Wut und das Unverständnis über sich ergehen, saß bald weit abseits von den Kollegen allein an einem Tisch, nahm später nur noch von daheim Jause mit und vermied alle unangenehmen Gelegenheiten, in denen über das Thema Tierschutz hätte gesprochen werden können. Aber nie war ihm der Bericht in der Tageszeitung aus dem Kopf gegangen, in dem von einem entlaufenen Stier die Rede war. Einem Stier, der vor Angst aus dem Schlachthof geflohen war und sich daraufhin im Wald versteckte. Diese Angst in den Tieraugen! Diese Hilflosigkeit trotz der enormen Kraft und Größe. In den Händen eines Menschen war doch das stärkste Tier wehrlos wie eine Mücke. Und dass Säugetiere sehr ähnlich empfanden wie Menschen, gerade was Gefühle wie Schmerz, Furcht, Aufregung oder Einsamkeit betraf, das hatte die Forschung doch längst schon herausgefunden, das war doch eindeutig bewiesen. Aber den Menschen schien das vollkommen gleichgültig zu sein. Sie zerschnitten ungerührt das köstlichste Stück Fleisch auf ihrem Teller, tunkten es genüsslich in die Pfeffersauce oder in die Preiselbeeren, und verschwendeten keinen Gedanken daran, dass dieses Stück Fleisch einmal gelebt hatte, eine Mutter hatte oder selbst war, dass es auch nur eine Möglichkeit hatte von Anfang an, nur ein Leben, dieses, ohne Versprechen auf Entschädigung, Vergeltung, ein Paradies.
Dabei gab es doch nicht nur die Rinder und Schweine, die kotstarr, blutverschmiert und mit angstgeweiteten Augen durch die Gitterstäbe der Tiertransporter ihrem Tod entgegenblickten, und zugleich das erste Mal ins Freie, in die Sonne, das Tageslicht. Es gab nicht nur die Hunde, Katzen und Affen in den asiatischen Ländern, die dort gefoltert wurden, um hernach als Delikatesse serviert zu werden. Es gab auch Tiere, die so ganz anders waren, von deren Empfindungen und Bewusstsein den Menschen kaum etwas bekannt war. Wie lange lebten die Fliegen, die auf dem Leimpapier festklebten, ehe sie darauf zugrunde gingen? Wie viel bekamen sie von ihrem grausamen Schicksal mit? Was hatten sich die tausend und abertausend Nacktschnecken zuschulden kommen lassen, als dass sie eben Nacktschnecken waren, nichts anderes hätten werden können, nie eine Wahl hatten, nur jetzt die Qual? Er versetzte sich beim Anblick jedes gepflegten Gartens unwillkürlich in den Kopf einer roten Wegschnecke, er konnte nicht anders, es war in ihm veranlagt, auch er hatte keine Wahl. Er spürte sich deutlich über die Erde gleiten, eine glänzende Spur aus Schleim hinter sich herziehend. Kein Mensch hinterlässt so viele Spuren wie eine Wegschnecke, aber was nützt es ihr, was bleibt? Nichts! Nicht eine einzige Schnecke wurde persönlich von jemandem gekannt. Spuren waren auch nur Verschmutzungen auf der Welt, wie farbloses Insektenblut.
Er glitt im Schneckenkörper die Beete entlang und wusste, dass es sich hierbei um nichts anderes als das Paradies handeln konnte. Wie von Zauberhand hatte da jemand oder etwas ihm sein ganz privates Stück Himmel bestellt. Die köstlichsten jungen Pflänzchen, die schmackhaftesten neuen Triebe, das allerzarteste Blattwerk schien nur auf ihn zu warten. Und er war nicht allein! Viele Artgenossen gesellten sich zu ihm, alle verblüfft über diesen wunderbaren Zauberort, den nun noch ein leichter Regen erfrischte. Es war der Inbegriff des Glücks. Dann kam die gute Gärtnerin und schnitt ihn entzwei. Einfach so. Mitten im Paradies konnte das passieren. Denn es war gar nicht das Paradies, sondern die Hölle. Rings um ihn nichts als entzweigeschnittene Schnecken. Die Hälften trockneten in der wieder zögerlich hinter den Wolken hervorscheinenden Sonne. In ihrer Verzweiflung begannen einige Schnecken, die noch ganz waren, ihre verstorbenen Verwandten aufzuessen. Eine andere Möglichkeit der halbwegs würdigen Bestattung schien ihnen nicht durchführbar. Im Garten nebenan, der nächsten Hölle, stürzten die Artgenossen in einen Bottich voll siedenden Wassers, wo sie sich langsam, sehr langsam, zu einem rötlichbraunen Brei auflösten. In wieder einer anderen Hölle salzte ein Blumenfreund im Blaumann die Tiere an wie eine zukünftige Mahlzeit, um sie dann achtlos ihrem Leiden zu überlassen. Sie seufzten und wimmerten noch mehrere Stunden und krochen noch etliche Zentimeter weit, aber niemand nahm davon Notiz. Niemand, außer ihm. Aber wie hatte eine Kollegin ihm einst gesagt? „Du allein kannst die Welt nicht retten!“ Wer hatte denn was von allein gesagt? Oder von der ganzen Welt? Aber Tiere retten war noch einfacher als Menschen retten. Denn dass die Menschen anstelle eines Paradieses auch nur eine Hölle zur Verfügung gestellt bekommen hatten, stand für ihn ebenso außer Zweifel.
Der Holocaust. Dieses sinnlose Morden von Menschen, die auch keine Wahl gehabt hatten. Als ein Philosoph in einer Zeitschrift einmal die Tiertransporte und die Schlachthöfe mit einem Konzentrationslager verglichen hatte, ging ein Aufschrei durch die Gesellschaft. Das Volk war empört über diesen scheinbar pietätlosen Gedanken. Warum? Er wusste es nicht mehr. Weil es da um Menschen und dort um Tiere ging? „Nur“ um Tiere? Im Dritten Reich dachte man doch genauso. Da gab es hier die Menschen und „dort“ die Juden. Oder eben andere unerwünschte Minderheiten. Zigeuner, Schwule, Arbeitsunfähige, sogenannte „Schädlinge“. Oft saß er lange Zeit nur reglos da. Oder erstarrte innerlich, während er äußerlich wie gewohnt seiner Arbeit nachging. Und versetzte sich in all diese Opfer hinein. Die Menschen, die von heute auf morgen vertrieben wurden, abtransportiert in Viehwägen, zu irgendwelchen Lagern. Diese Angst. Diese Ungewissheit in jeder Minute, jedem Atemzug. Die stetig nagende Frage, was aus den Angehörigen geworden sein mag. Lebte die Mutter noch? Hatte sie Angst, Schmerzen? Was war aus dem Vater geworden? Wo hatte man die Kinder hingebracht?
„Für manche Menschen ist das tatsächlich eine Art Kinderersatz“, erläuterte die Psychologin. „Es überträgt ihnen Verantwortung, sie glauben irrtümlicherweise, dass es Liebe sei, wenn ein Tier aus einem hingestellten Napf frisst. Es sind bestimmt arme Personen. Aber wenn Arme anderen Armen helfen möchten, kommt eben meistens nichts Gutes dabei heraus.“ Der Polizist nickte eifrig, als hätte sie soeben eine unumstößliche Wahrheit ausgesprochen, die demnächst als allgemein gültiges Gesetz in die Bundesverfassung aufgenommen werden sollte. Die Seuchenpolizei legte inzwischen ihre Schutzanzüge an.
Sich mit Geschichte zu beschäftigen, war ihm bald schon unerträglich geworden. Die ganzen Kriege, die Folteropfer, die Hexenverbrennungen, der Schrecken der Inquisition. Nichts als Leid. Bis heute. Alles beim Alten. Kinderarbeit, Kindersoldaten, Kinderpornografie. Ausbeutung Rechtloser. Der Hunger auf der Welt. Die Armut. Naturkatastrophen. Flugzeugabstürze. Schiffsunglücke. Flüchtlingselend. Diskriminierung. Krankheiten. Schicksalsschläge, Martyrien. Elend. Not.
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