1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 An Abenden wie diesem war es schon vorgekommen, dass sie kein Ende gefunden hatten. Am Morgen, wenn die anderen aufstanden, saßen sie noch immer am Feuer und stritten. Heute Abend allerdings überwanden sie diesen Punkt der Diskussion. Sie kamen auf das Thema zurück, das sie am Nachmittag schon einmal besprochen hatten. Es war Eugen, der das Gespräch wieder auf Jolanda brachte.
»Im Übrigen bin ich der Meinung, dass wir die Frage, ob unsere Vorfahren alle Idioten waren, zurückstellen sollten. Wir haben jetzt wichtigere Dinge zu besprechen. Oder bist du anderer Meinung?«
Simon, dem dieses Gezänk über die geistige Verfassung der Vorfahren immer ein wenig zuwider war und der sich nur darauf einließ, weil er meinte, im Namen der Vernunft sprechen zu müssen, nahm diesen Vorschlag Eugens dankbar an. Er wünschte sich manchmal, dass Eugen von dieser merkwürdigen Geschichtsphilosophie ablassen würde. Zusammen könnten sie dann daran gehen, die Geschichte vor dem Krieg sachlich zu diskutieren. Aber Eugen war und blieb ein Surrealist, eine Mischung aus klarem Verstand und verrückten Einfällen. Da musste man ja schon dankbar sein, wenn er wenigstens jetzt einmal die Augen nicht vor den dringenden Problemen verschloss. Jolanda war noch jung, aber Eugen hatte, auch wenn er selbst es am Nachmittag nicht hatte eingestehen wollen, trotzdem recht: Man musste sich rechtzeitig um einen Mann kümmern, der Jolanda angemessen war.
Anschließend redeten sie noch eine halbe Stunde lang darüber, was zu tun sei. Sie kamen überein, dass sie innerhalb von zwei Wochen eine Entscheidung suchen wollten. Auf welche Weise auch immer, Jolanda würde, wenn es soweit war, den schönsten Mann bekommen, den es in ganz Süddeutschland gab. Eugen wollte mit dem Funkgerät weiterhin herumhorchen, ob es noch andere junge Männer gab, die infrage kamen.
Die darauffolgenden Tage verliefen ohne besondere Vorkommnisse. Manchmal gingen Eugen und Simon mit den anderen Mitgliedern der Gruppe in den Wald, um Nahrung zu sammeln. Meist aber blieben sie vor der Höhle sitzen und beratschlagten, was sie tun wollten. Nachdem eine Woche vergangen war, hatte Eugen noch immer keinen geeigneten anderen Kandidaten mit dem Funkgerät ausfindig machen können. Alles deutete darauf hin, dass der Mann, der südlich von Nürnberg lebte, der einzige war, der über alle äußerlichen Merkmale eines gesunden Mannes verfügte. Rudolf, Eugens Verbindungsmann, hatte nur Gutes berichtet. So lief alles auf die Frage hinaus, wie es gelingen könnte, den Mann zu Jolanda oder Jolanda zu dem jungen Mann zu bringen.
Wie dringend diese Aufgabe war, zeigte sich drei Tage später. Eugen und Simon waren mit in den Wald gegangen. Als sie am Vormittag plötzlich auf den Gedanken kamen, dass es möglich sein musste, aus einem der ausgebrannten Dörfer ringsum so viel Material zu beschaffen, dass ein Fahrzeug gebaut werden konnte, gingen sie zur Höhle zurück. Unterwegs kamen sie an einer kleinen Höhle vorbei, aus der sie deutlich eine klare, unverzerrte Frauenstimme hörten. Als sie der Stimme nachgingen und die Höhle betraten, sahen sie zuerst Jolanda. Sie war bis auf ein dünnes Hemd ganz nackt und kniete vor dem halb ausgezogenen Robert. Die Augen des Narren zuckten nervös hin und her, und aus seinem Mund floss der Speichel vor lauter Erregung. Ganz offenbar war es Jolanda, die die Initiative ergriffen hatte und sich bemühte, Robert begreiflich zu machen, was er als Nächstes zu tun hatte. Obwohl der Narr nichts anderes wünschte, als seine Gier an Jolanda zu befriedigen, war er offenbar unfähig, die einfachsten, instinkthaften Handlungen auszuführen.
Simon sah, dass Eugen alles richtig eingeschätzt hatte. Jolanda war kein Kind mehr. Sie hatte Wünsche. Sie wollte einen Mann und nahm, wenn es nicht anders ging, sogar mit den Narren vorlieb. Sie konnten nur hoffen, dass sie bisher bei solchen Versuchen noch keinen Erfolg gehabt hatte. Eine weitere Missgeburt hätte die Versorgungslage der Gruppe verschlechtert. Es ging ihnen schon schlecht genug, auch wenn dieser Sommer gut war. Vielleicht war der Darauffolgende so, dass sie nur von Wurzeln leben mussten. Vielleicht verhungerten sie alle.
Eugen sprang vor, sein kräftiger rechter Arm wurde lebendig, packte Robert und warf ihn zwei, drei Meter durch die Luft. Der Narr rollte über den Boden, blieb ängstlich zusammengekauert liegen und schlang die Arme um seinen Kopf, als wollte er Schläge abwehren. Jolanda starrte Simon an und sagte nichts.
»Komm mit«, röhrte Simon.
Er zog Jolanda hoch, und sie machten sich zu dritt auf den Weg zur Höhle. Der Narr, der es gewohnt war, den anderen zu folgen, lief in einiger Entfernung hinter ihnen her.
In den folgenden Tagen sorgte Eugen dafür, dass immer eine der Frauen aus der Gruppe ein Auge auf Jolanda hatte. Nach einer weiteren Woche kam eine der Frauen und meldete, dass Jolanda Menstruationsbeschwerden habe. Eugen erzählte Simon davon. Sie waren erleichtert. Jolanda war nicht schwanger.
Als sie tags darauf den Rat einberiefen, an dem alle Mitglieder der Gruppe teilnahmen, konnten sie konkrete Vorschläge machen. Überall in der Gruppe ruckten die Köpfe in schweigender Zustimmung, als Eugen sprach. Er sagte zuerst, dass Jolanda – ›die schöne Jolanda‹, wie er sie nannte – wohl nach allgemeiner Auffassung nur an einen Mann gegeben werden dürfe, der in gleicher Weise vollkommen sei wie Jolanda selbst. Auch die jungen Männer widersprachen nicht. Unter ihnen war keiner, der sich jemals Aussichten gemacht hatte. Sie alle waren hässlich und in vielfältiger Weise verkrüppelt. Bei dem einen war das Gesicht eine grotesk verzerrte Maske, bei einem anderen waren die Beine so weit verkürzt, dass er nur mit lächerlichen Trippelschrittchen gehen konnte. Einige waren wahrscheinlich ohnehin zeugungsunfähig. Alle vertrauten sie ihren Philosophen, die schon das Richtige für Jolanda tun würden.
»Wir haben nun in der Nähe von Nürnberg einen jungen Mann gefunden. Er soll sehr schön sein. Aber nach Nürnberg sind es über fünfzig Kilometer. Das ist das Problem. Überall die Strahlung, wie ihr wisst. Simon und ich machen jetzt den Vorschlag, Jolanda dennoch zu dem jungen Mann zu bringen. Wir glauben, dass das möglich ist.«
Eugen erklärte weiter, wie der Plan aussah, den er zusammen mit Simon ausgedacht hatte. Es gab weit und breit keine Fahrzeuge. Aber in der Nähe, in einem der Dörfer, wo die Strahlung noch nicht tödlich war, da müsste es Fahrräder geben. Er erklärte der Gruppe, was man unter einem Fahrrad zu verstehen hatte. Es gelang ihm nur unvollkommen. Er hatte auf seiner Reise nach Bamberg zwar eine Vielzahl von Fahrrädern gesehen, aber er wusste nicht, wie man auf den schmalen Rädern fahren sollte. Wenn er auch nicht zweifelte, dass das möglich war.
Es musste ihnen gelingen, ein Fahrrad zu holen. Und sie brauchten Teile von anderen Fahrrädern für den Fall, dass etwas repariert werden musste. Und Werkzeug natürlich. Dann aber, und das sei die eigentlich wichtige Sache, müssten sie noch einen Karren herstellen, den man hinter dem Fahrrad befestigen und so ziehen konnte. Auf dem Karren würden sie eine Kiste befestigen, und in dieser Kiste würde sich Jolanda während der Reise aufhalten.
Natürlich konnte das keine Kiste aus Holz sein. Die würde ja keinen Schutz vor der Strahlung bieten. Nein, es gab andere Materialien. Blei sei am besten, Blei schütze gut. Man werde es sicherlich in den Batterien der Autos, die in den Dörfern herumstanden, finden. In den Büchern, die er gelesen habe, stünde jedenfalls, dass in den Batterien Blei sei. Daraus müssten sie eine Kiste bauen. Jetzt sei Juni. Zwei Monate Zeit, dann könnte alles fertig sein. Wenn die Gruppe gemeinsam ans Werk gehe. Gemeinsam könnten sie es schaffen.
Nachdem Eugen geendet hatte, nahm Simon all seine Kraft und all seinen Atem zusammen, und entwarf keuchend und manchmal brüllend ein Zukunftsbild, durch das er die Angehörigen der Gruppe zusätzlich zu motivieren hoffte.
Читать дальше