Weil sie an dem Transport von Jolanda keine Verdienste haben erwerben können, haben es sich die Mitglieder der anderen Gruppe angelegen sein lassen, die Hochzeit so vorzubereiten, dass sie als ein unvergessliches, prachtvolles Ereignis gefeiert werden kann. Essen und Trinken, lange Tischreihen, feierliche Kleidung, alles ist vorhanden.
Am 7. Oktober, einem Samstag, findet die Hochzeit statt. Eugen, Simon und die besten Männer der anderen Gruppe haben sich zusammengesetzt, um eine Zeremonie auszuarbeiten, die dem Anlass entsprechen kann. Der Initiative Simons ist es zu verdanken, dass diese Hochzeit den Hochzeiten vor dem Krieg gleicht. Hier, mit zwei Menschen, die alle Eigenschaften, die die Menschen vor dem Krieg hatten, unverfälscht bewahrt haben, sollte die Vermählung möglichst so vor sich gehen, wie es vor dem Krieg üblich war. So hatte Simon argumentiert, und er hatte ›Vermählung‹ gesagt, ein Wort, das bis dahin nicht einmal Eugen gekannt hatte.
So hat man denn am Abend des 6. Oktober bereits gefeiert. Polterabend habe man diese Feier vor dem Krieg genannt, weiß Simon zu berichten. Am Morgen des 7. Oktober treffen sich alle im schönsten Haus des Dorfes. Vorne hat man einen großen Tisch aufgestellt. Das Brautpaar tritt durch die rückwärtige Tür des kleinen Saales und schreitet durch einen von allen Gruppenmitgliedern gebildeten Gang nach vorne. Aus einem Lautsprecher scheppert ein Marsch. Es ist die einzige Platte, die die Nürnberger Gruppe besitzt. Man ist stolz auf diese Musik, die sogleich eine gewisse Festlichkeit garantiert.
Jolanda hat ein weißes Kleid bekommen und dazu einen Schleier. Ihr Mann, der sie um mehr als zwei Köpfe überragt, trägt einen abgewetzten schwarzen Anzug und eine dunkelrote Schleife. Kaum jemand in dem Saal kann seine Rührung verbergen. Einige Frauen weinen.
Vorne, hinter dem Tisch und mit dem Gesicht zum Publikum, stehen Eugen, Simon und zwei Männer aus der Nürnberger Gruppe. Diese vier Männer haben in den Tagen zuvor die Einzelheiten der Zeremonie festgelegt. Ihre Kenntnisse der Geschichte haben ihnen dabei geholfen. Man war sich einig gewesen, dass es so, wie es bisher in den Gruppen üblich gewesen war, nicht zugehen durfte. Sonst waren die Mitglieder, die einen Geschlechtspartner gefunden hatten, zu den Anführern der Gruppen gegangen und hatten das einfach mitgeteilt. Die Anführer legten dann im Gespräch mit den zukünftigen Eheleuten fest, ob diese Kinder bekommen sollten. Wenn dies nicht geraten schien, wurde über mögliche Methoden der Empfängnisverhütung gesprochen. Das war alles.
Jetzt besann man sich in den Gruppen der Tradition. Wie war es früher gewesen? Da hatte man ein Fest veranstaltet. Freunde eingeladen. Nachdem sich die Frau und der Mann das sogenannte Jawort – was für ein schöner altertümlicher Ausdruck! – gegeben hatten, aß und trank man zusammen. So soll es dieses Mal wieder sein, denn die beiden, die da heiraten, sind neue Menschen, weil sie den alten Menschen so sehr ähnlich sind.
Jolanda und ihr zukünftiger Ehemann stehen jetzt vor dem Tisch. Simon ist zuerst an der Reihe. Er spricht von der Schönheit der beiden jungen Leute, er erinnert an die Zeit vor dem Krieg, deren Errungenschaften und Feste. Anschließend rühmt einer der Männer aus der Nürnberger Gruppe den Mut der Mitglieder der fremden Gruppe. Mehrmals spricht er von ›unseren Freunden aus den Bergen‹. Es hat den Anschein, dass er sich unter der Heimat der Höhlenbewohner ein furchtbares, hohes Gebirge vorstellt. Eugen erwähnt er gesondert und nennt ihn mutig und stark. Eugens Miene zeigt eine Mischung aus Ironie und Stolz.
Dann ist der Augenblick der eigentlichen Trauung gekommen. Zuerst tritt Jolanda einen Schritt vor, und Simon, der nun an der Reihe ist, bemüht sich, seiner Stimme Festigkeit zu geben und das Keuchen zu unterdrücken. Er hat sich feierliche Formeln ausgedacht. Jeder Zuhörer spürt die kleine Erhabenheit dieser Stunde.
»Ich also will dich, Jolanda, fragen, ob es dein Wille ist, dich dem neben dir stehenden jungen Mann zu vermählen. Ist es so, dann antworte mit einem vernehmlichen Ja.«
In der allgemeinen Rührung und weil niemand diese Sprache überhaupt noch kennt, ist untergegangen, dass Jolanda offensichtlich ein wenig konsterniert ist. Die geschwungenen Sätze Simons fliegen über das Maß des ihr gerade noch Verständlichen kühn hinweg, verbreiten eine wolkige Stimmung in dem Raum, ohne auf ihre Beklemmung Rücksicht zu nehmen. In der Aufregung der vergangenen Tage sind in Jolandas Gesicht drei große Pickel gewachsen, haben sich rötlich angefüllt und blühen jetzt, in der entscheidenden Stunde, auf das Heftigste. Auch die kleinen Ungereimtheiten des Protokolls fallen niemandem auf. Nun, da Jolanda vorgetreten ist, steht sie nicht mehr neben dem schwarzhaarigen jungen Mann. Aber soll eine solche Kleinigkeit überhaupt beachtet werden? Nein, das wäre schamlos.
Jolanda öffnet ihren kleinen Mund. Er bleibt für einen Moment offen stehen, dann sagt sie mit ihrer schönen, klaren Stimme: »Jaaa!«
Sie hat das Ja ein wenig hingezogen. Der hinter ihr stehende Mann ist, kaum dass sie dieses Wort gesprochen hat, mit einem eiligen Schritt neben sie getreten. Der Repräsentant der Nürnberger Gruppe, der bis dahin geschwiegen hat, spricht jetzt im Wortlaut Simons Formel nach. Nur dass er für Jolandas Namen den des Jungen einsetzt: Patrick. Auch der Junge antwortet mit einem lang gezogenen Ja.
Gleich darauf bricht im Saal Jubel aus. Simon, der Zeremonienmeister, hat es so einstudiert. Jolanda und Patrick rühren sich nicht von der Stelle. Die Verwirrung ist den beiden Jungvermählten ins Gesicht geschrieben. Simon deutet die Miene der beiden als Ausdruck des Glücks, Eugen empfindet im Anblick der ganzen Szene ein Gefühl erregender Sonderbarkeit.
»Nun wollen wir feiern!«, sagt Simon und gibt dem Brautpaar einen Wink. Beide wenden sich um und schreiten mit bewusst langsamen Schritten zur Tür.
Die Zuschauer folgen. Draußen im Freien sind Tische und Bänke aufgestellt, und es beginnt das Hochzeitsessen, ein Mahl mit ungeahnten Überraschungen in der Speisenfolge. Von allem ist genug da, Bohnen, Salat, verschiedene Soßen und vor allem: Fleisch. Genießbares, zartes Fleisch. Dazu serviert man Einheimischen wie Gästen Apfelwein. Es ist mit einem Wort ein wunderbares, unvergessliches Fest. Eugen und Simon gehen, nachdem sie gegessen haben, zwischen den Tischen umher. Überall sagt man ihnen, wie unvergleichlich schön die Trauung am Morgen gewesen sei, wirklich unvergleichlich schön.
Es ist Eugen, der am Mittag bemerkt, dass Robert nicht unter den Hochzeitsgästen sitzt. Er fragt zuerst Simon. Auch der weiß nicht zu sagen, wann Robert sich entfernt hat. War er überhaupt bei der Trauung anwesend? Sie wissen es nicht. Sollte man das ganze Fest zerstören, jetzt, da die Stimmung ihren ersten Höhepunkt erreicht hat? Simon und Eugen beschließen, erst einmal unauffällig zu suchen. Sie vergewissern sich, dass Robert wirklich nicht bei den anderen sitzt, dann gehen sie durchs Dorf. Als sie den Narren nach einer halben Stunde noch nicht gefunden haben, wird Simon unruhig, während Eugen meint, dass Robert schon in der Nähe sein werde. Er habe sich doch nie von der Gruppe entfernt.
Eugen behält recht. Nach ungefähr einer Stunde finden sie Robert hinter einem Haus am Rande des Dorfes. Er sitzt ruhig auf dem Boden und blinzelt in die Sonne.
»Möchtest du nicht mit uns feiern, Robert?«, fragt Eugen.
Robert scheint die Frage verstanden zu haben. Langsam, ohne Simon und Eugen anzublicken, schüttelt er den Kopf. Er ist – ja, er ist ohne Frage traurig, und Trauer hat man zu respektieren. Die Trauer der Narren ist in nichts geringer als die der Verständigen. Robert wird, wenn das Fest geendet hat, wieder mit zurückfahren, gewiss. Jetzt soll er, wenn er es so will, hier allein bleiben dürfen.
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