Als Eugen und Simon schweigend zum Festplatz zurückgehen, sind sie sich, ohne dass sie darüber ein Wort verlieren müssten, darin einig, dass Roberts Trauer dem Tag nichts von seiner Feierlichkeit nimmt. Der Kontrast erhöht das freudige Gefühl, gibt der Festlichkeit eine gewisse Randschärfe und verhindert so, dass der Tag ins diffuse Wohlgefühl abgleitet.
»Wir werden hoffen dürfen«, sagt Simon endlich. Er fügt nicht hinzu, worauf sie hoffen sollen. Aber das ist auch nicht notwendig. Eugen grinst ihn von der Seite her an. In spöttischer, herzlicher Freundschaft.
1980 Ein Mann für Jolanda . Aus: SF-International 1. Hrsg. von Herbert W. Franke. München: Goldmann. Goldmann TB 23345.
Das Mädchen aus der weißen Zeit
»Georg, wir gehen jetzt«, rief Frau Klein und hob ihre Skier auf. Georg ging zur Tür seines Zimmers, um sich von seiner Mutter zu verabschieden. Sie fuhr zusammen mit seinem Vater und Katia, seiner Schwester, über das Wochenende zum Skilaufen. »Ja, tschüs denn!«
»Willst du nicht noch mit rauskommen und Vater und Katia Auf Wiedersehen sagen?«, fragte Frau Klein.
»Ach Gott, ihr fahrt doch nicht zum Südpol! Sag ihnen halt, dass ich mich hier verabschiedet habe.«
Frau Klein warf ihrem Sohn einen vorwurfsvollen Blick zu, so einen Ja-wenn-die-Kinder-älter-werden! -Blick, dann ging sie aus der Wohnung, und Georg trottete zur Haustür, um sie hinter seiner Mutter zuzumachen. Er fühlte sich sehr unwohl. Alle diese Bräuche! Guten Tag und Auf Wiedersehn, Mein Name ist – Gestatten Sie, dass – Dürfte ich Sie bitten – idiotisch! Die ganze Welt ging ihm auf die Nerven. Es war Zeit, dass er in sein Labor kam und nichts mehr von diesem ganzen Firlefanz hörte. Er nahm den Schlüssel vom Brett und ging hinunter in den Keller.
Hier im Keller, in seinem kleinen Labor, fühlte er sich wohl. Hier hatte er alle Bücher, Aufsätze, Tabellen, Werkzeuge und Materialien, um sich seine eigenen Dinge zu bauen. Das, was ihn interessierte. Seine Eltern und Katia verstanden davon sowieso nichts. Es war gut, dass sie weggefahren waren. So hatte er Zeit für sein entscheidendes Experiment. Die neue Chronobox war schon seit über vier Wochen fertig, und alle Tests waren erfolgreich verlaufen. Gegenüber der alten hatte er diese Box in vielen Punkten verbessert. Außerdem war sie jetzt so geräumig, dass er bequem selbst darin Platz hatte. Natürlich war sie nicht so groß wie die Riesenboxen in den Labors der Universitäten und der Industrie, aber das war egal. Die Technik beherrschte er jedenfalls. Georg betrachtete die Kontrollinstrumente. Die Box wurde seit dem Vormittag aufgeladen. Noch eine Viertelstunde ungefähr, dann war es soweit. Er setzte sich in den alten Sessel in der Ecke und stellte auf dem kleinen Rechner die Vibrationswerte ein. Alles andere konnte er vom Innern der Box aus steuern. Er wartete. Eine rote Lampe leuchtete auf und zeigte an, dass die Ladung für die Box ausreichend war. Jetzt – ja, jetzt war es soweit. Georg stand auf und mühte sich um Festigkeit und Entschlossenheit. Er zitterte trotzdem ein wenig. Angst war das nicht. Das Gefühl ähnelte jenem Schwindel, der einen überkommt, wenn man in großer Höhe über ein breites, festes Brett gehen soll. Wenn das Brett sich am Boden oder nur einen Meter darüber befände, dann wäre alles ganz leicht. Aber so?
Überlege nicht zu viel, sagte Georg zu sich selbst. Es ist alles in Ordnung. Er legte die Hand auf den schweren Würfel in der Mitte des Raums. Kaum mehr als einen Meter Kantenlänge hatte das Ding. Aber es würde genügen. Er hatte es ja schon ausprobiert. Er passte bequem hinein. Also, Luke auf!
Georg drückte auf den Knopf des elektrischen Flaschenzugs. Der Elektromotor straffte die Kette und hob langsam und gleichmäßig den schweren Deckel der Kiste hoch. Ungefähr einen halben Meter über der Box blieb der Lukendeckel dann stehen, und Georg stieg ein. Vor sich hatte er die schmale Konsole mit den Instrumenten. Die Innenbedienung für den Flaschenzug, die Anzeigen für die Vibrationswerte und die Zeit- und Raumkoordinaten, die verschiedenen Stellhebel zur Veränderung der Koordinaten während der Fahrt – und dann der rote Startknopf. Von oben tönte das Summen des Flaschenzugs, der die Decke auf die Luke herunterließ. Das harte Einrasten des zentnerschweren Stahlbetonteils, das die Umgebung schützen sollte – fertig? Ja, fertig, natürlich. Was würde geschehen, wenn er – vielleicht fand er nicht mehr zurück, oder die Reise wurde nicht richtig gesteuert? Inmitten seiner Zweifel und Überlegungen, plötzlich und sogar für sich selbst ein wenig noch überraschend, drückte Georg auf den roten Knopf. Für einen kurzen Augenblick geschah nichts, und er glaubte eben diesen kurzen Augenblick lang, dass nun gar nichts mehr geschehen würde.
Aber dann setzten die Vibrationen ein. Das Innere des Betonwürfels zerstob in weniger als einer tausendstel Sekunde. Dass er zu wenig Dämpfung habe, dachte Georg noch, dann verlor er das Bewusstsein.
Als Georg Klein aus der Ohnmacht erwachte, glaubte er zuerst, er befände sich noch immer im Innern der Chronobox. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sein entscheidendes Experiment gelungen war. Nach einigen Überlegungen griff er nach oben und löste den Verriegelungshebel. Als die Luke daraufhin einen Spaltbreit aufsprang, wusste er, dass er nicht mehr in seinem kleinen Kellerlabor war: Blau. Blauer Himmel! Nein, doch nicht. Aber was? Georg richtete sich auf, indem er mit einer Hand die Luke ganz aufdrückte. Er stand in der inneren Schale seiner Chronobox. Die äußere, zentnerschwere Hülle war verschwunden, sie war im Labor zurückgeblieben. Hier war nur der dünne Metallmantel des Innenraums. Also war das Experiment doch gelungen. Aber was bedeutete das? Wo war er, und in welcher Zeit befand er sich? Georg hatte sich lange genug mit der Theorie der Raum-Zeit-Verschiebung beschäftigt und wusste, dass diese Fragen, auch wenn man sie fast zwangsläufig stellen wollte, völlig ohne Sinn waren. Er war außerhalb des Weltraums, in dem sich die Erde drehte. Deshalb war es sinnlos, zu fragen, wo er sich jetzt befand. Diese Welt hier war wirklich, und sie war es auch nicht. Wenn man, wie er, hier stand, dann war alles real und deutlich sichtbar. Für die anderen Menschen aber, für seine Eltern und für Katia zum Beispiel, existierte sie weniger als ein Traum in seinem Kopf. So war das nun einmal, auch wenn man es zuerst nicht so recht glauben konnte. Als Georg sich, noch immer in der inneren Schale stehend, die Umgebung besah, wunderte er sich. Alles hier war vertraut und doch wieder sehr merkwürdig. Das Gras und die Sträucher – er stand mitten in einem grünen Garten. Aber das Grün war dunkel, fast blau, und die Sträucher sahen seltsam unecht aus. Und außerdem das Licht! Auch das Licht war bläulich. Ganz weich und diffus war dieses Licht, sodass es keine Schatten warf, sondern alle Pflanzen dicht umschloss und sie, zumindest dem Anschein nach, dichter zusammenrückte, als es der Wirklichkeit entsprechen mochte. Nachdem er aus dem Würfel der inneren Chronobox ausgestiegen war, schaute Georg zuerst zum Himmel, um zu überprüfen, woher dieses überaus seltsame blaue Licht kam. Es gab nirgends eine Sonne, obwohl keine Wolken zu sehen waren. Das Blau wurde, wenn man hinaufsah, nur immer dichter. Es wölbte sich und fiel, irgendwo hinter Bäumen und Sträuchern, hinunter zum Horizont. Hier also war er gelandet. Es sah nicht so aus, als ob es hier viel zu entdecken gäbe. Vermutlich war diese Welt unbewohnt. Ein unbewohnter, gut gepflegter Garten, angenehm, aber langweilig. Leben konnte man hier, gewiss. Die Sensoren der Chronobox, die verhinderten, dass die Box auf einem unbewohnbaren, toten Planeten landete, diese Sensoren hatten gut gearbeitet. Aber gegen Langeweile gab es keine Außenfühler. Er konnte trotzdem zufrieden sein. Vielleicht war es richtig so. Zuviel Aufregung auf einmal war auch nicht gut. So konnte er, ohne dass er sich um seine Box Sorgen zu machen brauchte, zu einem Spaziergang aufbrechen und die nähere Umgebung erkunden.
Читать дальше