1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 »Wir müssen uns eben etwas einfallen lassen«, sagte Eugen. »Von alleine geht nichts, das ist klar. Aber ich habe da so einige Ideen, die mir durchaus realisierbar zu sein scheinen.«
Die Sonne war im roten Nebel verschwunden. Aus den Büschen mit den lilafarbenen Blüten, von unterhalb der Höhle, kamen die letzten Sammler mit ihren Beeren und Pilzen zurück. Ein gutes Jahr. Genug zu essen. Keine Niederschläge, die die Nahrung aus dem Wald ungenießbar machten. Was noch gegessen werden konnte und von welchem Zeitpunkt an gehungert wurde, weil die Früchte zu stark strahlten, all das legten Eugen und Simon gemeinsam fest. Sie waren dafür häufig davon befreit, mit den anderen zusammen Früchte zu sammeln. In diesem Jahr würde es leicht gelingen, die Vorräte für den Winter anzulegen.
Mit den letzten Sammlern kam auch Jolanda zurück. Trotz ihres unbeholfen breiten Gangs kam sie leichter zur Höhle herauf als die meisten anderen. Es gab kaum einen, der nicht eine Krankheit oder eine Missbildung hatte, die ihn beim Gehen behinderte. Und diejenigen, die gut sehen und zupacken konnten, führten die Narren an den Händen. Die meisten der Narren waren durchaus imstande, Früchte zu sammeln. Es musste nur jemand da sein, der sie von Zeit zu Zeit neu anleitete, denn sie vergaßen immer wieder, was sie eigentlich tun sollten. So nahm man sie am Morgen und am Nachmittag mit in den Wald, sie verrichteten geduldig die Arbeiten, die ihnen einer aus der Gruppe auftrug.
»Wie ist es gegangen?«, fragte Simon, dessen Stimme beim Aussprechen des letzten Wortes aufkreischte.
»Hier, schau!«, sagte Jolanda stolz und wies auf ihren Korb, der bis zum Rand mit Himbeeren gefüllt war.
Simon verzog sein Gesicht zu einer anerkennenden Grimasse und ließ seinen Kopf ein paar Mal nach vorne auf seinen Brustkasten fallen. Er hörte mit Vergnügen Jolandas Stimme, die so wohltönend, ohne Zischen oder Kreischen war. Ja, sie mussten wirklich einen Mann finden, der genauso schön war wie Jolanda. Sie verdiente es, dass man sich um sie bemühte. Nur durch solche Menschen wie sie würde auf die Dauer der Bestand der Gruppen gesichert werden können.
Mit den Sammlern gingen Simon und Eugen zurück zur Höhle. Bald würde die Nacht kommen, sie mussten das Gatter vor die Höhle schieben. Zwar fanden die wilden Hunde jetzt im Sommer genügend Beutetiere, aber es war dennoch besser, wenn man vorsichtig war. Manchmal trieben sich die Hunde auch im Sommer in der Nähe der Höhle herum.
Als sie das Gatter geschlossen hatten, setzten sich Eugen und Simon in ihre Sesselstühle und warteten auf das Abendessen. Richard, der Koch, und zwei Frauen waren dabei, es zuzubereiten. Sie kochten Pilze und Kartoffeln. Als das Essen gar war, trat Eugen mit dem Geigerzähler an den Topf. Ein leichtes Rattern, nicht besonders stark. Eugen hörte sich das Geräusch ein paar Sekunden lang an, dann nickte er mit dem Kopf, und Richard begann, mit einem Schöpflöffel die Essensgefäße, Teller und kleinen Schüsseln, zu füllen.
Nach dem Abendessen rückten Eugen und Simon ihre Sessel näher an das Feuer, um noch ein wenig über grundsätzliche Fragen der Geschichte und Entwicklung der Gruppe zu sprechen. Manchmal setzten sich einige Gruppenmitglieder dazu und hörten verwundert, welch seltsame Ideen da gesponnen wurden. Jeder konnte bei dieser Gelegenheit feststellen, dass Eugen und Simon wirklich allen anderen geistig überlegen waren. Die Führung der Gruppe lag bei ihnen in guten Händen.
Heute setzte sich niemand zu den beiden Philosophen. Alle verkrochen sich nach dem Essen in ihre Ecken, um gleich darauf einzuschlafen. Die Arbeit während des Tages war anstrengend gewesen.
Eugen und Simon, die ihre Stimmen leise zu halten suchten, um die anderen nicht zu stören, waren nach kurzer Zeit bei einem ihrer Lieblingsthemen angekommen: Sie diskutierten darüber, wie es zum Krieg gekommen war. Manchmal, wenn sie sich über eine These besonders uneins waren, kreischte die Stimme Eugens auf, oder Simons Rede wurde von einem konvulsivischen, erbitterten Röhren unterbrochen. Die Schlafenden störte das nicht mehr.
Schon seit Jahren stritten Simon und Eugen über die Entstehungsursachen des Krieges. Sie taten es leidenschaftlich, sehr grundsätzlich und mit der Freude am intellektuellen Wettstreit. Ihre beiden Positionen waren seit Langem unverändert gegensätzlich, aber immer wieder bemühten sie sich, ihren Auffassungen neue Facetten hinzuzufügen. Noch immer hoffte jeder von den beiden, dass er eines Tages den anderen überzeugen werde.
Simon vertrat die Auffassung, an diesem letzten Krieg, wie an allen anderen Kriegen auch, sei die Unfähigkeit des Menschen schuld, seinen technischen Fähigkeiten moralische Schranken zu setzen. Wie auch immer, die Menschen seien nicht imstande, tödliche Auseinandersetzungen zu vermeiden. Sie könnten einfach nicht wissen, ob andere es ehrlich mit ihnen meinten. Misstrauen und Rüstung seien die natürliche Folge. Der Krieg sei immer das Überhandnehmen von Misstrauen und Rüstung.
Eugen setzte dem immer erst einmal entgegen, diese Betrachtungsweise sei viel zu ernsthaft. Heute sei die Zeit gekommen, aus der ironischen Distanz auf die Vergangenheit zu sehen. Gerade weil alles verloren sei, müsse man mit größerer Freiheit an die Erklärung gehen. Er mokierte sich über Simons anspruchsvolle Gedankengebäude und nannte sie bestürzend vollkommen. Sie hätten, wie sich Eugen auszudrücken pflegte, ›philosophische Vorkriegsqualität‹. Vor allem wenn er sich so über Simons Thesen lustig machte, geriet Eugens Stimme völlig außer Kontrolle und begann sich zu überschlagen.
Eugens Erklärung wiederum war so, dass Simon nicht müde wurde, ihr groteske Beliebigkeit anzuprangern. Eugen vertrat nämlich die Meinung, die Kriege seien ein Produkt der außer Kontrolle geratenen Ästhetik. Gerne zitierte er in diesem Zusammenhang Zeitungen, die er bei seinem Besuch in Bamberg in einer Bibliothek eingesehen hatte. Da hätten Journalisten, die es weit von sich gewiesen hätten, dass sie als Verherrlicher des Krieges bezeichnet wurden, seitenlang von der Schönheit und der Präzision neuer Waffen geschwärmt. Sogar die Vernichtungskraft sei häufig mit einer Sprache gefeiert worden, die an Feuilletonberichte über gewisse Opernaufführungen gemahnte. Simon ärgerte sich jedes Mal, wenn Eugen die Zeitungen zu zitieren begann, weil er meinte, dass das eine unfaire Diskussionsweise sei. Er könne diese Behauptungen nicht überprüfen, sodass Eugen einen Vorteil in Anspruch nähme, der ihm nicht zustünde. Vor längerer Zeit, mitten in der Hitze der Diskussion, hatte Eugen darauf geantwortet, er, Simon, könne ja, wenn er Lust habe, nach Bamberg gehen und alles überprüfen. Damals war Simon sehr getroffen gewesen und hatte über zwei Wochen lang kein Wort zu Eugen gesagt.
Auch an diesem Abend waren die beiden nach kurzer Zeit wieder bei ihren alten Thesen. »Was du vergisst«, sagte Simon, »ist die Tatsache, dass das Bewusstsein unserer Vorfahren einfach nicht deinen Konstrukten entsprochen hat. Sie haben sich bemüht, den Krieg zu verhindern. Was du dauernd zitierst, das mögen ja einige Journalisten einmal geschrieben haben. Aber deshalb ist es doch noch lange keine Erklärung für den Krieg!«
Hier kreischte Eugens Lachen so laut auf, dass sich einige Schläfer unruhig herumwarfen und fast aufgewacht wären. »Diese Forderung, mein Lieber, ist ja wieder einmal von bestechender Logik! Unsere Vorfahren! Soll ich wirklich meine Erklärung daran messen, ob sie den Einsichten einer Welt voll Geisteskranker entspricht? Das ist doch wieder so, als ob ich einen von unseren kleinen Narren nur so behandeln dürfte, dass es seinen dumpfen Gefühlen verständlich wird.«
Dies war ein Punkt, an dem sich Simons und Eugens Meinungen wiederum grundsätzlich unterschieden. Während Simon nicht aufhörte zu betonen, man müsse die frühere Geschichte und die eigenen Vorfahren trotz des Krieges mit Ernst und Ehrfurcht betrachten, sprach Eugen immer nur von den Idioten, die vor dem Krieg gelebt und alles verschuldet hätten. Simon wurde atemlos vor Zorn, wenn Eugen derartig blasphemisch sprach. Auch jetzt schwieg er, und man hörte nur ein Atemgeräusch, das sich von einem Röcheln langsam zu einem tiefen Stöhnen steigerte.
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