Die Art, wie wir unsere Lebensgeschichte erzählen, zeigt, wie wir das verstehen, was uns in unserem Leben widerfahren ist. Was geschieht mit Ihnen, wenn Sie Ihre Lebensgeschichte erzählen? Empfinden Sie sich als distanzierter Erzähler oder durchleben Sie Ihre Gefühle erneut, wenn Sie Ihre Geschichte erzählen? Erscheinen Ihnen bestimmte Dinge mit intensiven Gefühlen verknüpft und ungelöst, obwohl sie vielleicht schon lange zurückliegen? Erinnern Sie sich an viele Details aus Ihrer frühen Kindheit? Was fühlen Sie, wenn Sie über Ihre frühesten Erlebnisse berichten?
Unsere Lebensgeschichten können uns Aufschluss darüber geben, wie unsere Vergangenheit unsere Gegenwart beeinflusst. Die Art, wie wir sie erzählen und dabei bestimmte Aspekte betonen, kann zeigen, auf welche Weise wir die Welt und uns selbst verstehen. Sie können zum Beispiel an die Ereignisse im Familienkreis denken, ohne besonders auf die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander einzugehen. Bei einigen Familien verhalten sich die Mitglieder sehr distanziert zueinander, man zeigt nur selten Gefühle, und jeder lebt mit seinen eigenen Gefühlen für sich. In solchen Familien kann es sowohl Eltern als auch Kindern schwer fallen, eine ausdrucksvolle autobiografische Geschichte zu erschaffen. In dieser Situation lassen sich nur schwer Einzelheiten abrufen, und manchmal fehlen jegliche Gefühle. In den Familien tauscht man sich häufig nur über die äußeren Ereignisse und nicht über die Befindlichkeiten der Mitglieder aus. In emotional distanzierten Familien scheint die wichtige Fähigkeit der Geistsicht, die Fähigkeit, den eigenen Geist und den anderer wahrzunehmen, sowohl bei den Eltern als auch bei den Kindern nur sehr minimal vorhanden zu sein. Geschichten sind der Versuch unseres Geistes, unser eigenes reiches Innenleben und das anderer zu verstehen.
Wege des Verstehens
Der Geist, der aus den Aktivitäten des Gehirns entsteht, verfügt über viele verschiedene Verarbeitungsmethoden. Auf einer sehr grundlegenden Ebene haben wir die verschiedenen Wahrnehmungssysteme Sehen, Hören, Tasten, Schmecken und Riechen. Auf einer weiteren Ebene befinden sich die unterschiedlichen Arten von „Intelligenz“, etwa die sprachliche, räumliche, kinästhetische, musikalische, mathematische, selbstbezogene und zwischenmenschliche. Der Geist ist komplex und zeigt sich in Myriaden wundersamer und unterschiedlicher Arten, die Welt wahrzunehmen und sich mit ihr auszutauschen. Wie wir wahrnehmen wirkt sich unmittelbar auf unser Verhalten aus. Als Organismen mit Eingabe- und Ausgabewegen haben wir Gehirne, die dazu ausgelegt sind, Daten von der Welt aufzunehmen, sie innerlich zu verarbeiten (was oft als Kognition bezeichnet wird) und dann eine entsprechende Antwort in Gang zu setzen: Eingabe – interne Verarbeitung – Ausgabe. Das ist die einfachste Beschreibung für die Rolle des Gehirns und des gesamten Nervensystems.
Wir können untersuchen, wie sich die rechte und die linke Gehirnhälfte bei der Verarbeitung eintreffender Daten unterscheiden. Beide Seiten haben sich über Jahrmillionen aus den asymmetrischen Nervensystemen niederer Tiere entwickelt und sind ziemlich verschieden voneinander. Die beiden physisch getrennten Seiten des Gehirns sind durch Stränge aus Nervengewebe, die Corpus Callosum oder Balken genannt werden, miteinander verbunden. Diese Trennung lässt beide Seiten relativ unabhängig voneinander funktionieren und ermöglicht ihnen recht unterschiedliche Arten der Informationsverarbeitung. Durch die Hin- und Herleitung der Informationen zwischen beiden Gehirnhälften wird eine integrierte Form der Verarbeitung möglich, durch die das Gehirn höhere Funktionsebenen erreichen kann. Jede Seite des Gehirns nimmt auf die ihr eigene Weise wahr und verarbeitet die Informationen unterschiedlich. Der Vorteil dieser Unterschiede ist, dass ein einzelnes Gehirn über mehr Funktionen verfügt, wenn seine Teile spezialisiert sind. Wenn jede ausdifferenzierte Seite etwas zu einem integrierten Ganzen beiträgt, dann lässt sich dadurch mehr erreichen, als es jede Seite für sich könnte. Wären beide Hälften gleich, dann wären wir weniger komplex und anpassungsfähig.
Diese beiden unterschiedlichen Arten des Ablaufs von Wahrnehmung – interner Verarbeitung – Ausgabe lassen sich unter anderem mit den Begriffen rechter und linker Verarbeitungs modus bezeichnen. Der rechte Modus, der hauptsächlich durch die Aktivitäten der rechten Hemisphäre erzeugt wird, verarbeitet Informationen auf eine nichtlineare, ganzheitliche Weise. Er ist auf die Aufnahme und Verarbeitung visueller und räumlicher Daten spezialisiert. Autobiografische Daten, die Verarbeitung und Sendung von nonverbalen Signalen, ein ganzheitliches Körpergefühl, mentale Modelle des Selbst, intensive Gefühle und soziales Verständnis werden alle hauptsächlich auf der rechten Seite verarbeitet.
Im Gegensatz dazu beschäftigt sich der linke Modus, der hauptsächlich in der linken Gehirnhälfte beheimatet ist, mit weitgehend anderen Dingen: lineare, logische und Sprach-Verarbeitung. „Linear“ bedeutet, dass eine Information der anderen wie auf einer Linie folgt. Mit „logisch“ wird die Suche nach Ursache-Wirkungs-Beziehungen als Mustern in der Welt bezeichnet. Die Sprachverarbeitung verwendet die in Wörtern enthaltenen digitalen Informationen (ja/nein, ein/aus), wie sie zum Beispiel auf dieser Seite zu lesen sind.
Erzählungen und die Kombination von links und rechts
In dem Buch The Developing Mind wird der Gedanke entwickelt, dass Erzählungen, die dazu dienen, das eigene Leben zu verstehen, aus einer Kombination des links angesiedelten Bestrebens, alles zu erklären, und der rechts abgelegten autobiografischen, sozialen und emotionalen Informationen entstehen. Eine kohärente Erzählung, die Erlebnisse im Leben in einem sinnvollen Licht erscheinen lässt, kann durch die flexible Kombination der rechten und linken Verarbeitungsmodi entstehen. Aus der Zusammenarbeit des links gesteuerten Bestrebens zu erzählen und der nonverbalen und autobiografischen Verarbeitung der rechten Seite entsteht eine kohärente Erzählung.
Abb. 2: Seitenansicht des geteilten Gehirns
Abb. 3: Aufsicht auf das Gehirn
Tabelle 2: Rechts- und linkshemisphärische Verarbeitungsmodi
Rechtshemisphärische Verarbeitung
Nicht linear
Ganzheitlich
Räumlich-visuell
Spezialisiert auf
autobiografische Informationen
Senden und Empfangen nonverbaler Signale
intensive und ursprüngliche Gefühle
Aufmerksamkeit, Regulierung und integrierte Landkarte des Körpers
Soziales Denken und Geistsicht – andere Verstehen
Der Schwerpunkt der Verarbeitung kann in der rechten Gehirnhälfte liegen.
Linkshemisphärische Verarbeitung
Linear
Logisch
Spezialisiert auf
syllogistische Folgerungen – Suche nach Ursache-Wirkungs-Beziehungen
Linguistische Analyse – mit Hilfe von Worten die Welt definieren
„Richtig oder falsch“-Denken
Der Schwerpunkt der Verarbeitung kann in der linken Gehirnhälfte liegen.
Für Sie als Eltern ist es besonders wichtig, Ihr Leben in einem sinnvollen Zusammenhang zu sehen, denn es unterstützt Sie dabei, eine emotional verbindende und flexible Beziehung zu Ihren Kindern aufzubauen. Eine kohärente eigene Lebensgeschichte hilft Ihnen, Ihren Kindern Erfahrungen zu vermitteln, mit denen sie ihr wiederum eigenes Leben besser verstehen können. Sie können diesen Erkenntnisprozess unterstützen, indem Sie sich klar machen, wie sich der rechte und der linke Verarbeitungsmodus für Sie anfühlen. Jeder von uns hat die Fähigkeit, sich von den unkontrollierbaren, kaum vorhersehbaren, völlig freien Empfindungen unserer bloßen Gefühle zu distanzieren. Dieses Distanzieren kann als vorherrschend linker Modus der Verarbeitung angesehen werden: Der linke Modus setzt in diesem Moment die Eingaben aus der rechten Hälfte außer Kraft.
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